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1940 Biografisches

Miriam Davenport erinnert sich an Mehrings Flucht aus Frankreich

Die amerikanische Bildhauerin Miriam Davenport (1915 – 1999) erlebte die 1940 die Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen in Paris. SIe floh wie viele andere Künstler in den Süden. In Toulouse wurde ihr Walter Mehring vorgestellt, den sie schon mehrfach in ihrem Pariser Hotel gesehen hatte:

„One day, when Wolff and I were walking in the Place du Capitole, I recognized a sharp-faced little man coming towards Wolff with a broad smile and outstretched hand. I had known him on a „Bonjour, Monsieur“ basis in my hotel in Paris where he usually carried a bottle of wine in a paper bag under one arm. Wolff greeted him warmly and introduced him to me as Monsieur Mehring. The latter said, „Oh, but we have already met in Paris.“ When Monsieur Mehring had gone on his way, Wolff asked me if I really knew who he was. „No, not really.” I learned, then, that Walter Mehring was one of Germany’s most famous young poets, that he had written popular anti-Nazi songs, and that he was very high on the Nazi’s list of wanted men.“

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1998 Dramatisches

Walter Mehring als Teil eines Stückes für amerikanische Schüler

Das „Holocaust Teacher Resource Center“ hat 1998 bei Sean Price das Stück „Rescued from the Holocaust“ in Auftrag gegeben. In ihm spielt Varian Fry vom „Emergency Rescue Committee“ die zentrale Rolle. Genauso wie 1940/41 bei der Rettung Hunderter Intellektueller in Marseille. Die vierte Szene lässt auch Walter Mehring da Wort ergreifen:

Narrator D: Eventually, Meyerhof escapes and reaches the U.S. Meanwhile, Fry explores every means of getting people out of France. On a trip to Spain, he meets a British officer…
Major Torr: We’d love to loan you boats to help with the refugees. But we’re at war with Germany, and the British navy has no boats to spare. We still might be able to help, though.

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1995 Prosa Wissenschaft

Wenn Müllers in Paris Tyrannen morden

Die Prosa Walter Mehrings am Beispiel seiner Romane
Wenn Müllers in Paris Tyrannen morden - Die Prosa Walter Mehrings am Beispiel seiner Romane | von Andreas Oppermann

Die gesamte Diplomarbeit findet sich als pdf hinter diesem Link…

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1934 2010 Prosa Wissenschaft

Dieter Schiller charakterisiert die „Naziführer“

Auszug aus Dieter Schiller: Der Traum von Hitlers Sturz: Studien zur deutschen Exilliteratur 1933-1945
Auszug aus Dieter Schiller: Der Traum von Hitlers Sturz: Studien zur deutschen Exilliteratur 1933-1945
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1934 Prosa Zeitschriften

„Das Neue Tagebuch“ stellt „Naziführer sehen Dich an“ vor

1934 hat Walter Mehring anonym das Buch „Naziführer sehen dich an in der Editions du Carrefour veröffentlicht. Es enthält 33 Biografien von Größen der Nationalsozialisten. Profunde Fachkenntnis und sein exakter, großartiger Stil machen aus dem Band ein erstaunlich lehrreiches Buch. Wie in vielen seiner Gedichte und Zeitschriftentexte wird seine geradzu seherische Gabe deutlich. In der Zeitschrift Das Neue Tage-Buch erschien die erste kurze Vorstellung, die unten wiedergegeben wird: 

Eine traurige Galerie

Darre, Frank II, Prinz Auwi, Ley, Himmler, Epp, Streicher, Esser, Heines, Helldorf, Hinkler, Scheppmann, Kube,Killinger, Mutschmann, Kaufmann, Klagges, Feder,
Schlageter, Wessei, die beiden Hindenburgs, Papen, Hugenberg, Thyssen, Schacht, Schmitt. Dazu 40 unveröffentlichte Photos.

Der Titel zeigt an, dass dies Buch eine Antwort auf die Schmähschrift ist. Der Unterschied
zwischen beiden Publikationen besteht darin, dass die Schmiererei des Herrn von Leers eine Mischung Ton Fälschungen und Aufreizung zum Mord war – während die
Schrift „Naziführer sehen Dich an“ eine saubere Sammlung von Dokumenten darstellt. In der Einleitung heisst es: „Den Autoren dieses Buches wurde eine Bedingung gestellt: ihre Phantasie zu zügeln“. Die Autoren baben diese Bedingung erfüllt.

Es wäre leicht, auf Grund der einwandfreien Akten aus dem Vorleben der Naziführer Hass-Karikaturen zu schaffen. Doch könnten sie nie erreichen, was diese zurückhaltenden,  exakten, lediglich registrierenden Buchungen bewirken: die Erschütterung durch die nackte Wahrheit. Dies Buch ist für jeden Zeitgenossen ein unentbehrlicher Leitfaden durch das gigantischste Labyrinth der Lügen.

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1938 Biografisches

Hertha Pauli beschreibt Mehrings Flucht aus Wien

Als Wien noch die Weltstadt war, in der das Haus Habsburg und der Walzerkönig regierten, spielte auch das Wiener Kaffeehaus eine ganz andere Rolle. Hier traf sich die große Welt, hier wurden Ideen geboren, Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben. Im Kaffeehaus spiegelte sich wie auf einem kleinen Welttheater der Wandel der Zeiten. Die Figuren an den Stammtischen, Politiker, Dichter oder Schachmeister, traten entsprechend auf und ab. Die beiden berühmtesten Cafés aus der guten alten Zeit lagen nahe der Hofburg: das Café Herrenhof und das Café Central. Im Herrenhof traf sich Kronprinz Rudolf einst inkognito mit liberalen Journalisten, und im Central spielte vor dem Ersten Weltkrieg ein Herr Bronstein täglich seine Schachpartie, bis er in einem versiegelten deutschen Militärwaggon als Leo Trotzki in die Weltgeschichte einfuhr. Vor dem Zweiten Weltkrieg frühstückte ein neues Regierungsmitglied gern im Herrenhof. Jeder gute Ober kennt die Lesegewohnheiten seiner Stammgäste, und so legte er Dr. Seyß-Inquart stets geflissentlich die Zeitungen aus Deutschland auf den Tisch. War doch der Herr Minister 5sterreichs offizieller Verbindungsmann mit dem Dritten Reich.

Am Freitag, dem 11. März 1938, hatte ich gegen Mittag ein Rendezvous im Café Herrenhof — nicht mit Seyß-Inquart, den ich weder kannte, noch zu kennen wünschte, sondern mit zwei guten Freunden. Ich mußte mich beeilen, weil ich mich verspätet hatte. Ich war im Hotel Bristol von der amerikanischen Verlegerin Blanche Knopf empfangen worden, di sich zu meiner Freude für meine kürzlich erschienene Biographie von Bertha von Suttner interessierte.
Dieses Buch war in Deutschland ebenso schnell verboten worden wie das Buch der Friedensnobelpreisträgerin selbst, „Die Waffen nieder“. Aber auch in Wien hatte die Suttner-Biographie einen kleinen Wirbel verursacht: als ich im Rundfunk daraus vorlas, warfen Nazi Stinkbomben in das Studio. Blanche Knopf aber wollte die Biographie nach Amerika mitnehmen, obwohl es zur Zeit kaum erfolgversprechend schien.

Wenn man sich beeilt, kann man das Caf6 Herrenhof vom Bristol aus in weniger als zehn Minuten erreichen, nicht aber an jenem 11. März 1938. „Wenn man am Ring nimmer durchkommt, haben wir Revolution“, sagen die Wiener seit 1918. An jenem Tag hielten mich Polizeisperren auf, weil junge Nationalsozialisten vor der Oper aufzogen. „Heil Hitler!“ brüllten sie.

Fragend wandte ich mich an einen der Polizisten. Der zuckte die Achseln, aber ein zweiter — Polizisten gehen gern paarweise um — sah mich plötzlich scharf an. Was soll denn das heißen, dachte ich, während ich mich aus dem Staub machte. Die Polizisten folgten mir, und in meiner Angst geriet ich fast unter die Nazi-Demonstranten. Doch die ließen mich laufen, weil die Polizei hinter mir her war. Ich schlüpfte in den Eingang eines Durchhauses und konnte durch den Ausgang auf der anderen Seite unbemerkt entkommen.

Als ich im Herrenhof auftauchte, fand ich die Freunde besorgt. Die „Heil Hitler“-Rufe drangen wie ununterbrochenes Hundegekläff zu uns herein. „Auch die Polizisten sind Nazis“, flüsterte ich atemlos und verstummte, weil der Ober zu uns trat.

„Was darf‘s sein?“ fragte er wie immer. Ich bestellte eine Schale Gold — nur Kaffee, denn mir war der Appetit vergangen.

Im Kreis meiner Freunde erholte ich mich. Der eine war Dr. Carl Frucht, heute Informationschef der UNO-Weltgesundheitsorganisation in New Delhi, damals noch Student. „Carli“, wie wir ihn einfach nannten, war Mitbegründer der „Österreichischen Korrespondenz“, meiner literarischen Agentur, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, vor allem österreichische Autoren zu verbreiten.

Der zweite war Walter Mehring. Der in Paris lebende deutsche Dichter war 1934 für ein paar Tage nach Wien gekommen und ein paar Jahre geblieben. Unsere höfliche Anfragen nach seinen Werken hatte er zunächst unbeantwortet gelassen. Schließlich wurden wir auf einer Gesellschaft einander vorgestellt, und er schaute mich lachend an: „5 i e sind die Österreichische Korrespondenz?“ Er hatte offiziellen Herren ausweichen wollen, nicht einer höchst unoffiziellen jungen Dame. Noch heute spricht er manchmal von dem großen Bänderhut, den ich damals trug.
„Du mußt jetzt rasch fort“, riet ich ihm im Herrenhof. Seine Ausbürgerung stand auf der ersten Goebbelsliste, was ihn mit Stolz erfüllte. „Und du?“ fragte er mich. „Bei uns ist es doch etwas anderes“, erwiderte ich, und Carli setzte hinzu: „Wir müssen am Sonntag wählen.“ Für diesen Sonntag, den 13. März — das Datum machte mich abergläubisch —‚ hatte Schuschnigg die allgemeine Volksbefragung angesetzt: Ja oder Nein, für oder gegen ein freies, unabhängiges Osterreich. Das zu erwartende Ja schien uns über jeden Zweifel erhaben. Bekannte aus politischen Kreisen bekräftigten uns darin; nicht nur Guido Zernatto, Generalsekretär der Vaterländischen Front, Staatssekretär und einer unserer Autoren, prophezeite einen überwältigenden Sieg; auch Vizebürgermeister Ernst Karl Winter, Mehrings Verleger, der als Sozialist nach einer Anti-Nazi- Einheitsfront rief. Und der deutsche Botschafter von Papen hatte Alma Mahler-Werfel anvertraut, daß nicht einmal mehr die österreichischen Nazis öffentlich für den Anschluß eintreten konnten, da ja die Unterschrift des Führers seit der Zusammenkunft mit Schuschnigg in Berchtesgaden unsere Unabhängigkeit garantierte.

Der volle Preis dieser sogenannten „weiteren Normalisierung der österreichisch-deutschen Beziehungen“ war uns nur gerüchtweise bekannt. Die veröffentlichten Punkte schienen schlimm genug. Seyß-Inquart wurde Innenminister, andere Nationalsozialisten erhielten Schlüsselstellungen, und für Naziverbrecher, wie die Dollfußmörder, gab es eine Generalamnestie.

Als die Nachricht von Schuschniggs Canossagang bekannt wurde, hatte ich Zernatto in der Vaterländischen Front angerufen. „Der Bundeskanzler in Berchtesgaden?“ rief ich entsetzt. „Wie konnte er nur?“ „Das hab ich ihn auch gefragt“, antwortete der Staatssekretär.

„Bis hierher und nicht weiter“, erklärte Kurt von Schuschnigg nach seiner Rückkehr. Er sprach im Parlament, neben der Büste seines Vorgängers Engelbert Dollfuß, der 1934 ein Opfer der Nazis geworden war. Die große Kampfansage war erst vorgestern erfolgt, als Schuschnigg in Innsbruck, seiner Tiroler Heimat, verkündet hatte: „Man‘der, s‘isch Zeit! Am Sonntag wird abgestimmt“ — und mit dem Ruf schloß: „Rotweiß-rot bis in den Tod!“

Brausender Jubel war ihm gefolgt. „Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ Wenn wir auch den Feind schon in den eigenen Reihen wußten, wir wollten kämpfen. Wir wollten die Mörder überrumpeln, ihnen keine Zeit zum Gegenschlag geben. Die Wahl sollte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.

Selbst Mehring, der Schwarzseher, mochte keine Warnungen hören und blieb. Hatte man ihm nicht schon 1934 in Paris von der Fahrt zu den „Austrofaschisten“ abgeraten? Im Zug nach Wien erzählte ihm dann ein Mitreisender, daß sein neuer Gedichtband „Und Euch zum Trotz“ in Österreich verboten worden sei. Der Herr trug das Buch bei sich und bat voll höflicher Bewunderung um ein Autogramm. „Wer sind Sie denn?“ wollte Mehring wissen.
„Ich bin der Zensor“, kam es zurück.

Später, beim Heurigen, bezeichnete Walter sich manchmal als „Wahl-Wiener“. Jetzt schien ihm, nach dem alten Witz aus dem Ersten Weltkrieg, unsere Lage „hoffnungslos, aber nicht ernst.“

„Ich lasse euch nicht allein“, erklärte er an jenem März- morgen im Herrenhof. Wenn alle Stricke reißen sollten, glaubte er nämlich, uns nach Frankreich retten zu können. Er hatte gute Beziehungen zum Quai d‘Orsay.

Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. „Herr Dr. Seyß-Inquart, bitte“, rief der Ober. „Berlin am Apparat!“

Am Nebentisch erhob sich ein Herr und ging dicht an uns vorbei zum Telephon in die Garderobe. In diesem Augenblick wurde mir plötzlich bewußt: diesem Mann untersteht jetzt unsere Polizei!

Auf dem Sims hinter unserm Ecktisch standen liebliche Barockengelein aus Bronze. Auf einen davon zeigend, flüsterte ich Mehring ins Ohr: „Soll ich ihn damit erschlagen?“

Walter schüttelte den Kopf. „Hilft nichts — es sind zu viele.“

Der Innenminister kam an seinen Tisch zurück, zahlte und eilte hinaus. Besorgt blickte der Ober ihm nach. „Sehr nervös, der Herr Doktor“, bemerkte er vertraulich zu uns. „Dem schmeckt heut‘ net amal sei‘ Apfelstrudel.“

Was hinter den Kulissen vorging, erfuhr ich erst viel später von Guido Zernatto im Exil. Seyß-Inquart begab sich nach diesem Anruf aus Berlin ins Bundeskanzleramt, wo man ihn schon überall gesucht hatte. Weder in seinem Büro noch in seiner Advokatenkanzlei war er zu finden gewesen; auch in der früher illegalen Landesparteileitung in der Seitzergasse konnte man ihn nicht erreichen. Nur sein Wagen parkte davor.

Indessen liefen im Bundeskanzleramt immer bedrohlichere Meldungen ein. An der bayrischen Grenze und in München sammelten sich deutsche Truppen; in der Grenzstadt Passau wurden im Laufe des Tages Militärtransporte mit 40.000 Mann erwartet, und in Niederösterreich und Wien rotteten sich SA- und SS-Verbände zusammen.

Man hoffte, Seyß-Inquart werde beruhigend eingreifen. Noch tags zuvor, am Donnerstag, dem 10. März, hatte er sich bereit erklärt, für Schuschniggs Volksabstimmung im Rundfunk zu sprechen. Daß er unterdessen im Herrenhof — einem gut gewählten, neutralen Ort — mit Berlin telephonierte, kam erst heraus, als er mit seinem Kabinettskollegen, dem Minister ohne Portefeuille Glaise von Horstenau, nun endlich im Bundeskanzleramt erschien.
Die beiden Herren überbrachten ein Ultimatum. Der Führer wünschte eine Verschiebung der Wahl um vier Wochen; dann sollte sie unter der Leitung von Seyß-Inquart vor sich gehen. Wurde das Ultimatum abgelehnt, würden die beiden Minister demissionieren und jede weitere Verantwortung ablehnen. Sie gaben dem Bundeskanzler für seine Entscheidung bis ein Uhr mittag Zeit. Eine knappe Stunde also.

Eine Absage der Wahl schien Schuschnigg unmöglich. Er könne die technischen Vorgänge ändern, nicht aber den Termin verschieben, erklärte er und gab Zernatto den Auftrag, mit den beiden Herren wegen einer Fristverlängerung zu verhandeln. Indessen wollte er die Lage mit Bundespräsident Miklas besprechen.

Dr. Seyß versicherte, er habe bezüglich der Frist bereits sein möglichstes getan, doch ließ er sich schließlich herbei, Berlin zurückzurufen, und kam mit einer Verlängerung um eine weitere Stunde zurück.

Im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes wartete eine schweigende Menschenmenge, während unausgesetzt die Telephone klingelten. So verging die Zeit, die letzte Frist, die Seyß-Inquart gewährt hatte. Zernatto redete auf ihn ein, diese Taktik, diese Politik könne unmöglich von ihm ausgehen — sie stehe in völligem Widerspruch zu seiner bisherigen Haltung . . . Der Innenminister nickte. Es liege nicht mehr bei ihm, meinte er. Die Entscheidung falle jetzt anderswo.
„Wo?“
„In Berlin.“
„Oder auf den Barrikaden“, erwiderte Zernatto.

Nach kurzem Überlegen entschloß Seyß-Inquart sich zu einem weiteren Gespräch mit Göring, der drüben die Zügel führte. Dieser Anruf wurde in der Bundes- zentrale abgehört. Wie sich später herausstellte, entsprach es den Tatsachen, was Seyß-Inquart darüber berichtete: erst habe Göring ihn warten lassen, um mit dem Führer zu reden; dann habe der Marschall das Ultimatum für verfallen erklärt und hinzugefügt:
„Teilen Sie das Schuschnigg mit.“
Seyß-Inquart wandte sich an Zernatto. „Wollen wir dem Bundeskanzler die Nachricht überbringen?“
Der österreichische Staatssekretär antwortete: „Das ist Ihre persönliche Aufgabe.“
Der Innenminister zuckte die Achseln. „Ich habe nur die Nachricht zu überbringen, aber keinen Einfluß. Ich bin nichts als ein historisches Telephonfräulein.“

Österreichische Propagandaflugzeuge flogen über den Himmel, und Millionen von Wahl-Flugzetteln flatterten auf die Straßen von Wien herab, in wilde Tumulte hinein. Als wir aus dem Herrenhof kamen, gerieten wir zwischen schreiende Fronten.

„Rot-weiß-rot bis in den Tod!“ schallte es aus unseren Sendern. „Heil Hitler!“ gellte es dazwischen. Ich pfiff die Marseillaise vor mich hin, aber es hörte mich keiner. Meine Kampflust übertraf meine Furcht. Noch immer siegesgewiß, zogen Carli und ich durch das Gewühl, während Mehring sein Hotel am Westbahnhof aufsuchte, um wenigstens seine Bibliothek zusammenzupacken. Was gleichzeitig im Bundeskanzleramt vor sich ging, ahnten wir nicht.

Wir gelangten heil in unser „Büro“, das nur aus einem Zimmer meiner Mansardenwohnung in einer CottageVilla bestand. Hier war es noch ruhig, als sei nichts geschehen. Friedlich lagen die Manuskripte unserer Autoren in den Fächern eines hohen Regals. Sämtliche politische Richtungen von links nach rechts waren vertreten; nur die nationalsozialistische fehlte.
Wir waren stolz auf unsere Liste. Sie reichte vom Dichter Franz Theodor Csokor, der als Vertreter Österreichs am P.E.N.-Kongreß in Dubrovnik für den Ausschluß der Nazis gestimmt hatte, über Alfred Polgar und Egon Friedell bis zu den Auslandsrechten von Schuschniggs „Dreimal Osterreich“.

An jenem Freitagnachmittag arbeiteten wir wie immer, weil es uns am wichtigsten schien, Ruhe zu bewahren. Abends wollte ich meinen Vater besuchen, der mit seiner jungen Frau im 9. Bezirk wohnte, in der Nähe des Biochemischen Instituts, seiner Arbeitsstätte. Meine Mutter, einst Mitarbeiterin der Neuen Freien Presse, Frauenrechtlerin und Pazifistin, lebte schon lange nicht mehr.

Von der Straßenbahn aus schien alles ruhiger, denn wir berührten die inneren Bezirke nicht. Mein Vater empfing mich bedrückt, die Stiefmutter kampflustig. Wir drehten das Radio an. Nach sieben Uhr sprach unser Bundeskanzler:
„Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk die Ereignisse des Tages zu berichten. Die deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde. Ich stelle fest, vor der Welt, daß die Nachrichten, die in t3sterreich verbreitet wurden, daß Ströme von Blut geflossen seien, daß die Regierung nicht Herr der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind . . .“
Ich atmete auf.
„Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, sich ohne Widerstand zurückzuziehen …“
In meinen Ohren brauste mein nicht-deutsches Blut, so daß ich nur mehr den Schluß hörte.
„So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze 3sterreich!“
„Gott“, sagte meine Stiefmutter.
Aus dem Radio klang Musik, vertraute Klänge von Joseph Haydn. Mein Vater schien plötzlich erleichtert. „Es kann doch nicht so schlimm sein“, meinte er. „Die spielen ja unsere Kaiserhymne.“
Ich schaute ihn nur an. Seit dem Zusammenbruch der Monarchie war das „Gott erhalte“ nicht mehr gespielt worden. Wohl aber sang man dieselbe Melodie mit anderem Text: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt . . .“

Wäre es nicht zum Weinen gewesen, ich hätte gelacht. Doch mir kamen auch keine Tränen. Ich starrte ins Leere. Ein neues Lied kam durchs offene Fenster: „Brüder, wir marschieren, bis alles in Scherben fällt“, sang und klang es da draußen, „heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!“
Ich wollte fort — wohin? „Wiedersehen jenseits der Grenze“, formten meine Lippen.
Papa schloß das Fenster. „Um Gottes willen, wenn dich einer hört“, flüsterte er. Und dann: „Ich bleibe.“ Nur meine junge Stiefmutter rief mir nach: „Denk an uns, wenn du an der Grenze bist!“
Später ging dann mein Vater über die Grenze — sie blieb.
Auf der Straße rings um mich brüllende Stimmen. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Es gibt keine Barrikaden.
Ich drücke mich in eine Telephonzelle. Die Verbindung klappt. „Komm gleich zu mir“, sage ich zu Mehring. „Ja“, antwortet er und hängt ein. Oder sind wir unterbrochen? Ich bin plötzlich allein. Nur Walters Stimme klingt mir noch im Ohr: „Gott geb‘s, daß nimmermehr loskomm‘ der große Krebs . .
Seine „Sage vom großen Krebs“ hatte er schon vor dem Reichstagsbrand geschrieben — jetzt kam der Krebs auf mich zu: „Wenn die berauschte Kreatur vom Traum erwacht“ — Schritt für Schritt — „geht alles rückwärts und verquer, rückwärts und verquer zu Hexenbränden und Judenpogrom . . . ! !“
Der Krebs hat plötzlich viele Gesichter. „Nieder mit euch“, schreit er. „Hör mich, Volk, welch‘ du hier lebst .. .“ Die Volksgenossen umringen mich, tanzen, singen: „Wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht‘s noch mal so gut“ — das Horst-Wessel-Lied. Ich laufe, laufe schneller als heute mittag — „dann kreiste zurück die Jahrhundertuhr zur ewigen Mitternacht“ — er kommt hinterher, hinterher. .. „Es geht um, es geht um, der große Krebs“ … Gott schütze Österreich. Hinter mir fällt die Tür ins Schloß. Ich bin zu Hause. Auf dem Boden türmen sich verstreute Manuskripte. Es ist still. Dann nimmt mich jemand in die Arme, als sei ich aus der Hölle wiedergekommen.
„Daß du nur da bist“, sagte Carli dann, und wir schauten uns an.
„Was machst du denn hier?“ fragte ich. „Die Manuskripte einpacken.“
„Die können wir doch nicht mitnehmen — ?“
„Wollen wir auch nicht“, erklärte er mir. „Sie müssen aus dem Haus, wenigstens die gefährlichsten.“
„Und wohin?“
„Ins Gebüsch, über die Gartenmauer. Da sieht sie lange keiner.“
Die Idee schien gut, denn verbrennen konnten wir nichts; wir hatten eine Gasheizung, keinen Ofen. „Nur laß mich jetzt nicht allein“, bat ich. Und Carli blieb. Nach neun Uhr kam Mehring, weiß wie die Wand. Die tobenden Horden hatten sein Taxi am Gürtel aufgehalten. Der Chauffeur war durch Seitengassen entkommen, schimpfte auf die „Saubagasch“ und vermittelte die neuesten Nachrichten; im ersten Bezirk sei kein Durchkommen mehr, im Bundeskanzleramt säße die SS, Schuschnigg sei verhaftet … Mehring stürzte ans Telephon. „Wen willst du anrufen?“ fragte ich.
„Paris. Einen Freund am Quai d‘Orsay.“ Seine Finger umklammerten schon den Hörer.
Die ganze Nacht suchte er von meinem Telephon aus Paris zu erreichen. Daß dies für uns gefährlich sein könnte, war uns nicht klar; wir begriffen bloß, daß die Verbindung nicht zustande kam.

Mit fieberhafter Hast taten wir sinnlose Dinge, ohne daß es uns bewußt wurde. Vielleicht einfach deshalb, weil das Leben seinen Sinn verloren hatte. Carli rannte unentwegt mit ‘dem Anti-Nazi-Material hinunter, Mehring telephonierte, ich räumte alte Sachen um.
Gegen Mitternacht meldete das Radio: „Bundeskanzler Seyß-Inquart hat zur Wiederherstellung der Ordnung in Berlin um den Einmarsch deutscher Truppen ersucht . . .“ Wir wollten es nicht glauben und fingen an herumzutelephonieren. Bei Zernatto hob niemand ab; wahrscheinlich war auch er schon verhaftet. Wir versuchten noch andere Leute anzurufen. Csokor meldete sich: „Packt ein“, sagte er. „Wir sprechen uns morgen.“ Wir saßen mitten unter den restlichen Manuskripten und rührten uns nicht. Mehring wagte sich nicht mehr in sein Hotel: im Morgengrauen ging Carli hin, um ihm die nötigsten Sachen zu holen. Er kam mit einem Köfferchen und der Meldung zurück, daß Mehring bereits um zwei Uhr früh von ‘der Gestapo gesucht worden war. Gott sei Dank nicht bei mir
Als Morgengruß schmetterte uns der Rundfunk entgegen: „Die erbetenen deutschen Truppen haben die Grenze überschritten. Reichsführer Himmler ist im Hotel Imperial eingetroffen, der Führer nach Wien unterwegs.“

Wann würde die Gestapo bei mir auftauchen?

Wir schlichen uns auf die Straße. Deutsche Bomberbrausten mit Donnerhall und aufgemalten Hakenkreuzen über den Himmel, so dicht, daß für uns die Sonne nicht aufging. Wir drückten uns in eine dunkle Ecke in einem Döblinger Caf6. Der Ober brachte uns zwei Zeitungen, von denen eine schon längst als Naziorgan bekannt war. „Die anderen sind beschlagnahmt“, sagte er. „Die Deutschen kommen.“
Mehring bestellte Cognac statt Kaffee. Den Ober wunderte nichts mehr. „Walter“, sagte ich, „wir müssen dich dann gleich zur Bahn bringen“, worauf er noch einen Cognac bestellte. Carli und ich tranken schwarzen Kaffee.
Wir zahlten und gingen. „Fahren muß jeder von uns allein“, meinte Carli auf dem Weg. „Erst Sie, Mehring, dann die Hertha — dann ich.“ Es war die Reihenfolge unserer Gefährdung. Keiner widersprach. Allein war man wohl sicherer.
Am Westbahnhof sahen wir schon von weitem die schwarzen Uniformen um den Haupteingang. Mehring kehrte um: „Ich kann nicht . . .“
Wir gingen ziellos umher; unversehens gerieten wir fast zu nahe an Walters Hotel. „Du mußt fahren“, flüsterte ich ihm zu. Ein hoffnungsloses Achselzucken war die Antwort.

Ich redete weiter auf ihn ein. „Wir werden bei mir auf Nachricht von dir warten — wenn bis Abend kein Telegramm aus Zürich kommt, suchen wir dich — wenn es eintrifft, kommen wir nach . ..
„Was soll ich denn telegraphieren?“ fragte Walter tonlos.
Wir einigten uns auf „Grüße, Onkel Emil“ — der Name fiel uns aus Kästners „Emil und die Detektive“ ein. Durch einen unbewachten Seiteneingang kamen
wir in den Bahnhof. Carli ging zum Schalter; ich plauderte mit Mehring auf französisch, weil er statt eines Passes nur ein französisches Reisepapier bei sich trug. Auf dem Perron wartete schon der Zug.

Mit dem kleinen Koffer reichte Carli Mehring seine Fahrkarte. „Schnellzug Wien—Zürich-—Paris, einsteigen!“ rief der Schaffner. Mehring ging auf den Perron hinaus, da trat ein SS-Mann auf uns zu, und im Schatten der schwarzen Uniform schien die Filigranfigur des Dichters vollends einzuschrumpfen.
„Wer sind Sie?“ fragte der SS-Mann und wies auf Mehring.
Carli trat dazwischen. „Das ist unser Französischlehrer“, sagte er rasch und hielt dem Nazi wie zum Beweis seine Studentenkarte hin.
„Unser Französischlehrer“, wiederholte ich beflissen. Der Uniformierte wandte seine Aufmerksamkeit uns zu. Bösartig musterte er den Ausweis. Ich hörte
schwaches Geräusch, und ein Blick aus dem Augenwinkel bestätigte mir: Mehring war verschwunden. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus. Eine schmale Gestalt sprang in den letzten Wagen. „Aufhalten!“ schrie irgendwer.
Wir erstarrten. Aber die SS-Leute stürzten sich auf eine kleine Gruppe, die noch einsteigen wollte. Carli hatte recht: Gruppen sind gefährdeter — sie waren umstellt und wurden abgeführt, während der Zug sich langsam aus der Bahnhofshalle ins Freie bewegte und das Rattern der Räder mit dem Donner der über uns kreisenden deutschen Flugzeuge verschmolz.

Dieser Auszug stammt aus dem Buch „Der Riss geht durch mein Herz“ von Hertha Pauli. In ihm beschreibt sie ihre Flucht aus Österreich und Frankreich, die sie zusammen mit Walter Mehring unternahm. Der ganze Band ist ein Muss für alle, die mehr über Walter Mehring erfahren wollen.

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1934 Brief Lyrik Rezensionen Zeitschriften

Joseph Roth schreibt Mehring einen Brief im Neuen Tage-Buch

Joseph Roth im Jahr 1918. Quelle: wikipedia.de
Joseph Roth im Jahr 1918. Quelle: wikipedia.de

Schon 1934 ist Walter Mehrings Band „Und Euch zum Trotz“ erschienen. In ihm sind Gedichte, die zu den wichtigsten des deutschen Exils gehören, etwa der „Emigranten Choral“. Joseph Roth hat das Buch im Neuen Tage-Buch besprochen. Dazu wählte er die Form eines Briefes an seinen Freund, mit dem er schon in Berlin viele Stunden am Caféhaustisch verbrachte – und bis zu seinem Tod im Pariser Exil noch viele weitere verbringen sollte. Erschienen ist der Text am 17. Juli 1934 in Heft 28 des 2. Jahrgangs:

 

Lieber Walter Mehring,

ich danke Ihnen für Ihr Buch und ich beglückwünsche Sie dazu. Sie hätten es nicht: ,,Euch zum Trotznennen sollen, sondern: „Uns zum Trost“. Denn es ist ein Trost, zu sehen, wie reif und stark Sie geworden sind, seitdem Ihr Vaterland unreif, ohnmächtig, lächerlich und bestialisch erscheint. Ihre neuen Gedichte haben die Kraft, die dem Dichter das unverschuldete Unglück verleiht, die Gnade des ironisierenden Hasses, den weiten klingenden Atem der grossen echten Trauer, in der die Welt lebt, seit Deutschland sich selbst geschändet hat. Das schönste Gedicht in Ihrem Buch: Brief im Exil“ erreicht die schmerzliche Vollkomrnenheit, die sich in manchen Gedichten Heines findet. (Man schämt sich zu Unrecht und aus einer Art snobistischer Furchtsamkeit, lebende Dichter, mit denen man sich im Kaffeehaus trifft, mit grossen Toten zu vergleichen.). Also setzten Sie in würdiger Schönheit die unsterbliche Reihe jener Männer fort die das deutsche Vaterland verlassen müssen und die es nicht vergessen können, die seinen Glanz noch dann verbreiten, wenn es selbst in Finsternis und Nacht versinkt, und den grossartigen Duft der deutschen Sprache durch die Welt strömen lassen, in den trostlosen Jahren, in denen es in Deutschland stinkt. Klage, Anklage, Heimweh, Liebe, Trostlosigkeit, Musik: Sie haben alle Elemente des Dichters und der Dichtkunst in Ihrem Buch. Befreit von der Notwendigkeit, jenes armselige deutsche ,.Kabarett“ mit „Chansons“ zu versorgen, das Kabarett, das niemals in Deutschland den Mut hatte, scharf und kritisch zu sein, die Feigheit der „Revolution“ und die Bestialität der „Reaktion“ anzukündigen, sind Sie, lieber Mehring, heimgekehrt in Ihre wirkliche Heimat: in die Einsamkeit, die dem Dichter ziemt – und in das Exil, das jedem anständigen Deutschen ziemt, der nicht im Konzentrationslager gefangen ist. In Ihrem Gedicht „Mirakel
des heiligen Bürokratius“ haben Sie ein grossartiges Wort geschaffen, um das ich  Sie beneide:

„Die Wache gab ihm einen Stoss –
Da stand der Mann im Staatenlos“

Das Land „Staatenlos“ : dort sind. wir zu Hause. Dort und in der deutschen Sprache, unserer einzigen Heimat, seitdem sie heimatlos in Deutschland geworden ist, von arischen Mauschlern geschändet, von „jüdischen“ Dichtern allein noch verteidigt, von toll gewordenen 60 Millionen gelallt, von Brandbuben als Zunder missbraucht.

Ihr selbst, der Sprache, meine ich, verhelfen Sie in der Welt zu ihrem alten Klang und Glanz. Ich weiss nicht, wie lange diese törichte europäische und amerikanische Welt noch das wahnsinnige Heulen zu begreifen sich bemühen wird, das innerhalb der Grenzen Deutschlands tobt und stürmt. Aber ich wünsche, dass jener Teil der Welt, der noch die alte deutsche Sprache kennt, Ihre Gedichte mit der Genugtuung liest, die sie mir bereiten.

Ihr ganz ergebener

Joseph Roth

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1998 Wissenschaft

Bettina Widners Dissertation untersuchte Mehrings „Müller“

1998 hat Bettina Widner ihre Dissertation „Die Stunde des Untertanen – Eine Untersuchung zu satirischen Romanen des NS-Exils am Beispiel von Irmgard Keun, Walter Mehring und Klaus Mann“ an der Freien Universität Berlin vorgelegt. Sie selbst fasst die Arbeit folgendermaßen zusammen:

„Die Dissertation behandelt selten rezipierte, in satirischer Schreibweise verfasste Romane aus dem NS-Exil der dreißiger Jahre. Es sind Romane, die nach den Voraussetzungen der Nazi-Herrschaft suchen. Sie weisen einer Gesinnungslosigkeit, die selbstverschuldeter Schwäche entspringt, ein hohes Maß an historischer Verantwortung zu. Die Exilromane stehen in der Aufklärungstradition deutscher Kleinbürgersatire seit Georg Christoph Lichtenberg und Heinrich Heine. Begriff und Bild des „Untertanen“, wie ihn Heinrich Manns Roman skizziert, belehnen alle untersuchten Exilsatiren.

Der Figur des Untertanen, des potenziell faschistischen, für antidemokratische Ideologie empfänglichen Kleinbürgers, werden schöpferische Charaktergestalten gegenübergestellt, Außenseiter, Schelme. In diesen Norm setzenden Figuren verkrusten sich bürgerliche Idealvorstellungen. Das kleinbürgerliche Denken des Untertanen ist als Schwundstufe bürgerlicher Existenz zu begreifen, die Nonkonformisten, indem sie bürgerliche Tugenden im Extrem ausleben, als die Gesinnungslosigkeit herausforderndes Gegenstück.

Einen offen der Ratio im emphatischen Sinne abschwörenden Gegner wie den Faschismus zu verlachen scheint auf den ersten Blick töricht. Doch ermöglicht das Lachen, unter Aufhebung reflexiv logischen Verhaltens, überhaupt auf die Realität gewalttätiger Willkür zu reagieren und den Widersinn, das Factum brutum NS, zunächst einmal als gegeben
wahrzunehmen – jenseits eines bloßen Verstummens.

In allen von mir untersuchten Werkgeschichten wirkt das Exil politisch radikalisierend. Am Ende eines solchen auktorialen Bewußtwerdungsprozesses steht nicht, wie zuweilen behauptet wurde, automatisch der Volksfrontgedanke. Der satirische Gestus ist eher einer der individualistischen Dogmenfeindlichkeit, gespeist aus Skepsis und Pessimismus. Doch wenn das provisorische Ich der Kritik in der Satire noch einmal einen Standort der  Perspektive findet, dann nur auf Kosten der Fortschrittsidee selbst. Die Romane legen offen, was der Nationalsozialismus der Literatur abfordert – die Aufwärtsbewegung der Kultur, des Geistes, der Zivilisation zu leugnen.

Die satirischen Exilromane sind als das demokratische Gegenstück zum sozialistischen  Widerstandsroman zu begreifen. In seiner jeweiligen Verarbeitung offenbart das Motiv „Kleinbürgerkritik“ den Dissens des Satirikers zur KP-Strategie.“

Hier ist der Link zur Zusammenfassung…

 

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1935 Zeitschriften

„In die Bresche springen!“ – Über den Fall Furtwängler im Pariser Tagblatt

"Walter Mehring: "In die Bresche springen!" - Faksimile aus dem "Pariser Tagblatt", Nummer 365 / 2. Jahrgang
"Walter Mehring: "In die Bresche springen!" - Faksimile aus dem "Pariser Tagblatt", Nummer 365 / 2. Jahrgang

Das Pariser Tagblatt wurde von der Deutschen Nationalbibliothek digitalisiert. Die gesamte Zeitungsseite, auf der die Texte stehen, sind dort zu finden…

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1937 Biografisches Brief

Aus einem Brief Walter Mehrings an Rudolf Olden

Brief Walter Mehring an Rudolf Olden, Wien 30. 5. 1937

[…]

Nun bin ich, soviel ich weiß, noch immer Mitglied des Pen-Clubs, dem ich vor neun Jahren Beitrat. Doch im Exil – mittellos und ohne die Möglichkeit, die Reisespesen zu tragen – hatte ich keine Gelegenheit mehr, seinen Sitzungen beizuwohnen.

Ich hätte trotzdem, weil ich schon ganz außer Kontakt geraten bin, keiner der sich befehdenden Exilgruppen zugehörig, wohnhaft in einer Stadt, wo ich abseits und nicht bodenständig herumschriftstellere, gern diesen nächsten Kongreß genutzt, um wieder einige Beziehungen zu knüpfen, um mich in notwendige Erinnerung zu bringen.

Das Programm freilich zeigt mir, daß die Erörterungen über die „Possibilites et modes d’expression du collectif dans la litterature“ nur für Auserwählte bestimmt sind. Eine „tenue de soiree“ und „cravate blanche“ gehört nicht mehr zum Handwerkszeug eines exilierten Literaten.

Könnten Sie mir dennoch einen Rat geben, wie ich ohne allzu große Kosten zu einer Beratung über das mir am Herzen liegende „Schicksal der Poesie in der modernen Welt“ Zutritt fände?

[…]

In: Werner Berthold und Britta Eckert: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933 – 1948, Katalog zur Ausstellung in der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main; Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1980 (= Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek; Nr. 10)