(Erinnerungsblatteiner Lesung von Christine Becker und Jörg Petzel beim Berliner bibliophilen Abend am 14. April 2003 in der Buchdruckerei Lutz Nessing in Berlin-Adlershof. Der Abend stellte moderne Großstadtlyrik in den Mittelpunkt. „Wenn wir Stadtbahn fahren“ steht dafür exemplarisch)
Kategorie: 1920
Ein Song für den Gong
Wie kam der Begriff des Songs in die deutsche Kultur? Der Mann im Mond spielte eine zentrale Rolle dabei – und leider auch ein rassistisches Machwerk, zu dem der Reimvirtuose Walter Mehring 1920 einen gewitzten Gegengesang anstimmte.
Auf die Frage, wer den ersten Songtext in deutscher Sprache geschrieben habe, würden die meisten Menschen wohl ohne zu zögern antworten: Bertolt Brecht. Doch er stammt nicht von ihm, sondern von einem heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriftsteller der Weimarer Republik, der für die Literatur dieser Epoche gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat: Die Rede ist von Walter Mehring, einem der faszinierendsten Autoren der zwanziger Jahre. In diesem Jahrzehnt war er, zumal in Berlin, sehr erfolgreich: Einige seiner Gedichte, darunter „Heimat Berlin“ und „Hoppla! Wir leben!“, waren damals in aller Munde, und mit seinem Stück „Der Kaufmann von Berlin“ löste er im Jahr 1929 einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik aus. Kein Wunder, dass aufstrebende jüngere Autoren sich an ihm orientierten: Der junge Brecht etwa ist bei Mehring in die Schule gegangen.
Der Elster Verlag macht weiter! Mit „Stum und Dada – Gedichte, Erinnerungen und Essays das Walter Mehring“ bringt der Zürcher Verleger Bernd Zocher den dritten Band von Walter Mehring in nur vier Jahren heraus. Das ist nicht nur löblich. Es ist vor allem für den Leser ein Fest. Immerhin handelt es sich bei Walter Mehring (1896 – 1981) um einen lesenswertesten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In diesem Band sind seine frühsten und etliche späte Texte versammelt.
Around 1905, Walter Mehring and Paul Citroen met on Derfflinger Strasse, on the “asphalt of which we were raised together“ (Walter Mehring: Citroen Dada; in: Die Weltwoche 1980). In an early letter to Paul Citroen, Mehring drafted the plan for a vaudeville show in which Blumenfeld was to be given the tailor—made role of an improviser. His friendship with „Wee-wee-Dada,” as Blumenfeld called Mehring, was more of a personal, than of an artistic nature. Until the fall of 1916, the three friends Erwin, Paul, and Walter often sat together in the evenings in the Café des Westens. When Blumenfeld returned from the war in November 1918, he stayed with his poet friend.“ (Erwin Blumenfeld; A.O.)
In February 1921, on the occasion of Blumenfeld’s honeymoon in Berlin, the friends came together once more as authors of the work Cafe’ Berlin. The etching renders the dense atmosphere of a literary cafe in Berlin: the guests are smoking, drinking, and polemicizing. Citroen was the only one to command the technique of etching; overall, however, his hand is only recognizable in the drawing of the bride and groom. The various signatures under the image do not coincide with the depicted figures and suggest that the image was made in commemoration of the evening, maybe even with the idea of it hanging on the wall of Cabaret Grossenwahn.“
Like so many artists of his generation, Mehring aspired to move to Paris: “I must say in advance that throughout four years of war. . . I had planned my ascent of Montparnasse and sworn to myself that I would do it as soon as the Hohenzollern monarchy was overthrown“ (Walter Mehring: Verrufene Malerei). In 1922 he implemented his plan and arranged to meet Tristan Tzara in Paris. At the end of the 1920s, Mehring visited the Blumenfelds in Zandvoort, as recorded in Blumenfeld’s contact prints (Fotografie; A.O.).
Not only did Erwin Blumenfeld love to read and write, he also ardently enjoyed reading out loud. In 1913, he founded a clique together with Citroen and Mehring. The group first comprised boys only; the core members consisted of Rudolf (Rudi) Arnheim, Walter Seliger, Martin Wasserzug, Ernst Kirschbaum, and Walter Joseph; all were enthusiasts of literature, theater, and the visual arts (Fotografien; A.O.). Among the girls later also tolerated in the clique, we find Lotte Herzfeld, to whom Blumenfeld devoted short stories,
poems, and letters. It was Blumenfeld who organized the meetings that took place at everyone’s home in turn. On these occasions, he would either read from his newest literary discoveries or from his own repertoire. In this context, however, he emphasized that he was unable to read out Schiller or Goethe, since he could only recite what he lived.
Walter Mehring was the all-important link between Herwarth Walden’s ”Sturm community” and Berlin Dada; he was also enthralled by the work of George Grosz. Mehring found mention in almost every letter by Erwin Blumenfeld to George Grosz and vice versa. But Blumenfeld was sometimes quite depreciative of his friend, who spent all his life as a bohemian poet par excellence and was maybe not cosmopolitan enough for Erwin’s taste: „Everything here stays Wee-wee Holland, as if Mehring had conceived
it.” (Erwin Blumenfeld 1930; A.O.) And in their correspondence of the 1930s, when commenting on Mehring’s hard circumstances, the tone is more mocking than worried.
Blumenfeld met many of his friends and good acquaintances in the Cafe des Westens in Berlin, called “Café Grossenwahn” (Café Megalomania) by the regulars. It is there, for instance, that he got to know Salomo Friedlaender-Mynona in 1913. He considered this philosopher and writer, born in 1871, as his spiritual father: „It was from his lips that I first heard the magic words ‘psychoanalysis’ and ‘relativity’ and the name of Montaigne. He showed me the emergency exit out of my parent’s home through the ‘Café Megalomania’ (Café des Westens)“ (Erwin Blumenfeld 1999; A.O.) Friedlaender-Mynona’s grotesque Rosa, die schöne Schutzmannsfrau was a very special book for Blumenfeld. He read it out to his clique and wrote one of his own poems on the front page of his personal copy.
(Helen Adkins: Erwin Blumenfeld – I was nothing but a Berliner. Dada Montages 1916 – 1933; Ostfildern: Hatje Cantz 2008; S. 33 ff.)
Berlin 1920
Unheimlich wuchtet dieses steinerne Meer in die rote Zeit. Schwingend in Tönen, flutend in elektrischen Farben, berstend von Geräuschen, ah eine dämonische Kulisse, schräg gegen den fahlen Horizont gestellt, in dem ein blauer Mond besoffen taumelt. Harfend der Dichter, auf Stahlsaiten, aufsteigend, Brennendes in sich fressend, Geräusche verschluckend, fürwahr ein Nachtwandler, ein grimmassierender Liebhaber.
Berlin – O magisches Zauberbecken, aus dem Wälder auftauchen, Banken, Bahnhöfe. Paläste, Flüsse, Hochbahnen, Automobile, Luftschiffe, Cadeten, und Bankdirektoren, Proleten, Pfaffen, Spaziergänger, Schauspieler und lachende Mädclıen. O Buntheit des einzigen Augenaufschlags, der das Blut in einem Rhythmus rinnen läßt, in einem neuen frechen Walzer . . . hörst Du? Schieber, Blut, Strolche, schüttelnde Feldgraue, Hasardeure in allen Farben . . . O, schon steigt der Päan aus Schmutz und Rhythmus, schon steigt er in die Sterne, die großen, betrunkenen, streikfreien Sterne der Weltmetropole, der geeinigten Kommune Groß-Berlin!
Auf dem Bauschutt zerbrochener, zertrümmerter Luftschlösser verbeugt sich der junge Cutaway mit dem spitzen Kopf, der von innerem Aufruhr geschüttelt Coupletverse herausschmettert, wie ein Hahn trompetet, der Wortfetzen von sich schleudert wie ein fanatischer Schwindsüchtiger den letzten Lungenrest – meine Damen und Herren in diesem stilvoll gewobenen Rahmen erlaube ich mir den jungen Diclıter Walther Mehring zu präsentieren, der eine besondere Gattung des politischen Couplets neu belebt, gelvanisiert, schicklich appretiert. Diese Couplets fassen mit spitzen etwas verdorbenen Fingern den kleinen Schaumrest von dem Weltmeer ab, der Berlin sich benennt, pusten ihn auf, größer, magischer, verwester spiegelnd, ein Embryo, riesenhafter Ballon, eine Nachtvisioıı mit Schatten, Gespenstern, spiegelnden Erlebnissen – und davon lebt das nun, dieser junge Dichter. Eine chemische Reinigung seines Vorbestellungsbestandes würde ergeben, daß er Mietherr im Kaschemmenviertel ist – aber das lassen wir wohl bleiben, das wollen wir wohl nicht: wir wollen die Romantik der allerrealsten Ereignisse, wir wollen den Dreck und das Brecheisen, das Polizeipräsidium und – natürlich – das Gleisdreieck.
Parbleu, dieses Berlin ist eine ganz neue Erfindung, letzte Neuheit nach dem letzten Streik, vornehmster neuzeitlicher Dessin, in einer halbseidenen Schieberdestille verstohlen herumgereicht. Das ist unser Berlin, in dem wir den Bolschewismus bekämpfen, mit roten Fahnen immer an die Wand lang für die Weltrevolution demonstrieren, Kinos besuchen, das schlankste Füßchen und die dickste Taille prämiieren – o Du herrliche Stadt mit der Sicherheitspolizei, Nachtlokalaushebungen, Schönheitstänzen und es lebe das natura Ballett! Das Alles, meine Damen und Herren, finden Sie bei Waltlıer Mehring. Nur, verstehen wir uns recht, nicht den Worten und Begriffen nach – das bringt die erste beste Lokalzeitung besser: 0 nein, keineswegs, vielmehr als Vorstellung ungewissester und doch präzisester Art, als schaukelnder Klangfetzen, zerbrochener Rhythmus, eckiger Schrei, als nachgeschleudertes Wort, als Vokalkette, als Konsonantencascade – lesen Sie sich das laut vor, meine Herrschaften, es ist einfach der gute Ton, über das Berlin von 1910 unterrichtet zu sein.
Wirkliclı: mein ganzes literarisches Milieu stimmt mich zur Seelenmanicure: hüten Sie sich vor der Rückständigkeit. Dadaistische Ausstellungen besuchen, ein bischen in expressionistische Filme gehen, der Consum des Großen Schauspielhauses, die Lektüre der Roten Fahne – gewiß, das ist alles schon sehr schön, aber fördert wirklich nicht
llıren seelischen Stoffwechsel wie es die Hygiene verlangt. Tun Sie etwas für Ihr darbendes Gehirn. Füttern Sie es mit Melıring. Sie werden begeistert sein von einer neuartigen, entscheidenden Reinigung der Gehirnbahnen. Sie werden den Kurfürstendamm und die lnvalidenstraße, Altmoabit und Bahnhof Alexanderplatz mit neueroberten seelischen Kräften erleben, die Sie selbst überraschen. Was ist Kola-Dultz, was ist Yohimbim dagegen! Versuchen Sie es! Vollziehen Sie Ihre innere Revolution! Man weiß ja nicht, was mit Berlin passiert! Man muß fest auf seinen Beinen stehen, muß auf Alles gefaßt sein, was ein sozialistischer Magistrat in die Welt befördert, muß nicht erschreckt sein, wenn der Magistrat morgen mit schwarzweißroten Fähnchen durch die Friedrichstraße zieht. Verschaffen Sie sich unter allen Umständen einen archimedischen Punkt, einen topographisch sicheren Standort in der geistigen Siedlungsfläche Großberlins. Eine
ernste Lektüre der Mehringschen Couplets bewerte ich wie sieben halbtiefe Kniebeugen. Gehen Sie an die Arbeit.
(Richter, Ernst: Berlin 1920; in: Schall und Rauch, 1. Jg/Nr. 2 vom Oktober 1920; S. 1 f.
Diese Rezension ist einer der ersten Texte, der über ein Buch Walter Mehrings erschienen ist. )
Als wir das Linden-Hotel verlassen, ist es warm, und die Straße riecht nach Frühling. Wachsmann ist gut gelaunt. Er geht mit offenem Mantel und pfeift eine fröhliche Melodie. An der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden bleibt er stehen, mustert das fünfgeschossige Gebäude mit den kursächsischen Schwertern an der Giebelfront.
„Gibt es dort Meißner Porzellan?“ fragt er und pfeift weiter. „Ich hätte Lust, hier in der Sonne zu dösen“, meint er dann lächelnd.
„Und die Zeit?“ frage ich erstaunt. „Oder wollen Sie nicht mehr in die Schumannstraße?“
„Doch“, sagt er lachend und singt: «Die Linden lang! Galopp! Galopp! Zu Fuß, zu Pferd, zu zweit! Mit der Uhr in der Hand, mit’m Hut aufm Kopp, keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit! – Kennen Sie das?“ Wachsmann sieht mich neugierig an.
Ich überlege verzweifelt, wie der Text weitergeht. Dann fallt mir doch nur der Refrain ein: „Mach Kasse! Mensch! Die Großstadt schreit: Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit!“
„Gut“, sagt Wachsmann. „Nur haben Sie die Hälfte unterschlagen! Man knutscht, man küßt, man boxt, man ringt, een Pneu zerplatzt …“, singt er weiter, und wir lachen über die Passanten, die uns neugierig betrachten. „Walter Mehring in Berlin“, sagt er dann. „Das hätten Sie erleben müssen. Es gab kein Hotel, keine Kneipe, kein Café, in denen er nicht gesessen hatte, und es gab in Berlin auch kaum Leute, die er nicht kannte: Abgeordnete und Straßenmädchen, Galeristen und Künstler, Taxifahrer, Kellner, Journalisten, Schauspieler, Ladenmädchen, Regisseure und Buchhändler. Leider haben wir uns erst getroffen, als ich auf dem Berliner Parkett schon ein wenig laufen konnte – im Frühsommer 1920 in Reinhardts zweitem ‚Schall und Rauch‘. Dort war es immer krachend voll, und so bin ich versehentlich einem hinter mir Stehenden auf den Fuß getreten. Darauf flüsteıte mir dieser Mensch sehr bestimmt, sehr freundlich und sehr berlinerisch: Du Rindvieh! ins Ohr. Ich drehte mich um und konterte mit Affe. So ging es weiter, bis unsere zoologischen Kenntnisse erschöpft waren und wir zudem feststellten, uns schon gesehen zu haben. Natürlich im Romanischen Café. Also beschlossen wir, lieber etwas zu trinken. Sicher wäre es besser gewesen, das zu lassen. Aber dann hätte ich Walter Mehring erst viel später oder vielleicht gar nicht näher kennengelernt. Jedenfalls bin ich am nächsten Vormittag in seiner Wohnung wieder zu mir gekommen. Mein Zustand war noch immer furchtbar, und Mehring erschreckte mich mit Skandalen, die ich verursacht haben sollte. Da mir jegliche Erinnerung fehlte, glaubte ich natürlich alles: von eindeutigen Anträgen, die ich wildfremden Damen gemacht, bis zu Prügeln, die ich deren entrüsteten Ehemännern angedroht hätte, und letztlich den Versuch, einen Schutzmann als Baum zu mißbrauchen. Zwei Stunden später saßen wir im Romanischen Café, und ich erfuhr unter dem Gelächter des Mehringschen Bekanntenkreises, daß er das alles erfunden hatte. Von dieser Stunde an gehörte ich im Romanischen Café zu den ‚Schwimmern‘ und lernte all jene Leute kennen, die ich vorher nur anzustaunen gewagt hatte: Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden, Däubler, den Schachweltmeister Emanuel Lasker, den Dichter John Höxter, der ein Morphinist war, und die Dadas natürlich, die Saison hatten.“
Konrad Wachsmann, einer der großen deutschen – später deutsche-amerikanischen – Architekten des 20. Jahrhunderts wurde 1901 in Frankfurt (Oder) geboren. Er lebte, studierte und arbeitete in den 1920er-Jahren in Berlin. Dort lernte er bereits 1920 Walter Mehring kennen. Michael Grüning führte 1979 ausgiebige Interviews mit dem damaligen Besucher Ost-Berlins. Aus diesen Gesprächen entstand das Buch „Der Wachsmann-Report“, eine Art Autobiografie in Vermittlung Grünings. In diesem Buch erzählt Wachsmann auch von einigen Begegnungen mit Walter Mehring. Die erste ist die oben zitierte, von der er Grüning bei seinem Besuch 1979 in Ost-Berlin erzählte. (Michael Grüning: Der Wachsmann-Report – Auskünfte eines Architekten; Berlin: Verlag der Nationen 1985; S. 46 f.)
DAS NEUE LIED
Wir sind kein liedersingendes Volk, und aus dem schauerlichen Gemisch von gestorbenen Wandervogelliedern und künstlich gemachten Operettenschlagern ragt nichts hervor, was dieses Volkes Seele erfüllte. Wenn dem Deutschen so recht wohl ums Herz ist, dann singt er nicht. Dann spielt er Skat.
Eine ganze Industrie befaßt sich mit der Herstellung von Amüsierungs-Erzeugnissen – aber wie tot ist das alles!
Die Technik: Der Schlager baut sich auf dem Refrain auf und der wieder auf einer allgemein gültigen, an sich farblosen, zugkräftigen Redewendung, die man nach allen Richtungen beliebig „drehen“ kann. Sie kann berlinisch sein, was sich so der Zeitungsleser unter berlinisch vorstellt – sie muß sexuell verwendbar sein, aber ja nicht erotisch. Operettenlieder und Couplets sind durchtränkt von einem unheilbaren Optimismus: in dieser Welt gibt es keine Brotmarken, und wenn es sie gibt, sind sie Anlaß zu einem Wortspiel. Verstaubt Technik und Musik: an der entscheidenden Stelle die Poängte, an der entscheidenden Stelle eine glatt auflaufende berliner Redensart, eine Zote, ein Wortspiel, eine politische Anspielung … Bitte sehr, bitte gleich!
Erstorben das Lebensgefühl dieser Dinge. Das ist alles nicht mehr wahr: der heillose Optimismus nicht und nicht das Pathos und der ethische Baß. Berlin ist anders, Deutschland ist anders, die Welt ist anders.
Wir haben, instinktiv und ohne nachzudenken, immer auf dem Kausalnexus und irgendeinem Ethos basiert. Vielleicht ist das gar nicht richtig. Vielleicht ist die Tatsache der Wertung eine überlebte und nicht mehr geltende Angelegenheit. Vielleicht gibt es doch noch außerhalb der Faktoren der materialistischen Geschichtsauffassung Dinge, von denen sich unsre Erziehung nichts träumen ließ.
Dada? Ja, wenn aus diesem Gemisch von Bluff, Schwäche, intellektueller Einsicht und Gefühl etwa herausspränge: Die Welt läuft – lauft mit! Wenn herausspränge: Die Menschen müssen so sein, und nichts kann ihre Existenz beeinflussen. Wichtig sind nicht Einflüsse: wichtig sind Prädispositionen.
So feierlich muß ich mich auftun, um einen kleinen Gedichtband mit Couplets anzuzeigen: „Das politische Cabaret“ von Walter Mehring (bei Rudolf Kaemmerer in Dresden erschienen).
Zunächst ist hier technisch etwas vollkommen Neues. Da sind nicht mehr die langen Sätze, die mit der Kraft des Verstandes hergestellten Gedankengänge, vom Autor auf die vorher gebaute Pointe losgelassen – hier ist der sinnliche Eindruck in jeder Zeile neu und stark. Die Mache kommt zunächst gar nicht zum Bewußtsein.
Sie ist aber – ob aus dem Herzen, ob aus dem Hirn herrührend – ungeheuer raffiniert. So etwas von Rhythmus war überhaupt noch nicht da. Man kommt nicht zur Besinnung, und es reißt einen um:
„Immer an der Wand lang. Immer an der Wand lang!
Einer taumelt, Einer baumelt.
Und der Schieber lacht sich krank.“
Mehring begann mit diesen Couplets am Ende des Jahres 1918. Da ist noch stellenweise die alte Form, aber die schon in ganz neuer Färbung. Er machte damals schon zweierlei: einmal eine wilde Hatz von Eindrücken in freien Rhythmen, die ungefähr so wirken wie eine Wand von Plakaten, an der man schnell vorüberfährt :
„Schon revoltieren
die ersten Lebensmittel der Entente
Im Magen des Kapitalisten!
Berlin, Dein Tänzer ist der Tod –
Foxtrott und Jazz –
Die Republik amüsiert sich königlich –
Vergiß mein nicht zum ersten Mai
Als alle Knospen sprangen!“
Oder er nimmt die alte Coupletform her mit dem richtigen Refrain, ordnet sich ihr scheinbar unter und wirft sie in Wirklichkeit über den Haufen. Der Refrain: eingehämmert.
„Herr Doktor, da is was von Noske drin,
Und was vom Lieben.“
Dann aber entsprang aus diesem jungen Menschen das neue Couplet. Er beherrscht alle berliner Dialekte: den des Luden, der Hure, des Schiebers, des zivilisierten Konfektionärs, des Droschkenkutschers und am meisten den Dialekt der Zeitungsleser, den die gar nicht als Dialekt spüren, und von dem sie glauben, das eben sei ihr geliebtes Deutsch. Die Folge dieser verblüffenden Kenntnis ist, daß Walter Mehring Lieder geschrieben hat, die unheimlich echt sind.
„Teure Heimat, Jott befohl’n,
Doch bei dir is nischt zu holen.
Denn du bist
Ausjemist
Bis uffs Hemd!
Und ‚ck find‘ mir wie ’ne Zille.
Jondle los.
Pacht mir drüben ’ne Destille,
In Los Angelos.“
Und:
„Da drinnen, i Gott bewahre,
Da gibts keine Gitarre!
Da gehts schwapp, schwapp,
Ach lecke, lecke ab!“
Wo ist der Unterschied? Die ersten Verse stammen aus dem um reißenden (Lied des Auswanderers) von Mehring (»Reisen, Mensch! is zu fein! Ohne Zaster uff’m Pflaster, Mit der Schneppe mang die Steppe, Ohne Schein»), das zweite aus den von Hans Ostwald versammelten erotischen Volksliedern (ein vergriffener Anhang zu seinen sehr instruktiven (Liedern aus dem Rinnstein bei Rösl & Co. in München). Die Lieder sind so echt, daß ich mir wohl denken kann, wie die Ostjuden der Grenadierstraße den Sang von der jüdischen Schweiz, so wie er bei Mehring im Buch steht, singen:
„As de Levone
De treifne Melone
Schaint in de jiddische Schweiz!“
Er scheut vor gar nichts zurück. Ich möchte einmal von ihm erotische Couplets hören.
Die Papas sind unverkennbar: amerikanische Affichen und die Franzosen der Montmartre-Cabarets. Aber das legitime Kind ist ein ganzer Kerl.
Ein ganzer? Ich sehe Berlin etwas anders. Noch kann ich es nicht so hartmäulig finden. Stell dich auf den Lehrter Stadtbahnhof und sieh die Züge nach Hamburg abfahren, die Lichter blinken, die Lokomotiven schnaufen, und über die Brücken trollt Berlin. Das faßt Mehring ausgezeichnet und so wie kein andrer. Aber er sieht nicht, wie vorn im ersten Vierterklassewagen ein älterer Mann mit Brille und einem Vogelbauer sitzt, das er in Tücher gehüllt hat. Darinnen hockt ängstlich auf seiner Stange ein kleines Tier mit erschrockenen glänzenden Augen. Und von Zeit zu Zeit sagt der Mann: «Na laß man, Mulle! Wir fahn jleich ab!» Das sieht er nicht. Und ich glaube, daß dieser Schuß Idylle der Stadt auch eine Farbe gibt (man kann darüber spotten, aber sie ist doch da). Mehring ist der erste Flieger über Berlin: unter seinen Augen rückt das alles zusammen: Straßenliniert, Stadtbahnzüge, Plätze und grüne Alleen – das Bild wird übersichtlich, deutlich und klar. Aber Einzelheiten kann man von da oben nicht mehr so erkennen.
Er sieht Berlin zum ersten Mal so, wie die Welt bisher Paris gesehen hat. Er hat ein neues Lebensgefühl, einen neuen Rhythmus, eine neue Technik.
Was ein Publikum, das von Kalisch bis Julius Freund mit gereimter Mathematik des Humors erzogen worden ist, dazu sagt, will nicht viel heißen. Augenblicklich steht es so, daß die Leute durch so ein Couplet zunächst umgeworfen werden (vor allem dank der Musik Friedrich Hollaenders), und wenn sie sich von dem unerhörten Schmiß und der Rage wieder erholt haben, fangen sie an, nachzudenken, langsam zu verstehen … und dann lehnen sie natürlich eine Lebensauffassung ab, die die ihrige nicht einmal tadelt, sondern einfach verlacht. Und doch zutiefst begriffen hat.
Mehring hat es nicht leicht. Ein ihm adäquates Cabaret gibt es nicht. Die besten. impressionistischen Künstler bringen Mehrings Lieder schließlich immer nur auf ihre Weise, und außer Gussy Holl wüßte ich niemand, der diese leicht in Fäulnis geratenen Verse ganz zu singen versteht.
Die virtuose Beherrschung einer neuen Form – das ist noch gar nichts. Wenn wirklich neue Philosophie, Ablehnung aller Metaphysik, schärfste und rüdeste Weltbejahung einen Straßensänger gefunden haben, der das alles in den Fingerspitzen hat: Leierkastenmusik, die Puppe auf dem Sofa des Strichmädchens, die eingesperrten Kinder, deren Mutter uff Arbeet jeht, Männer vom Hausvogteiplatz, für die die Welt keine Rätsel mehr birgt, brave Abonnenten, denen das Insertionsorgan Kindtaufe, Hochzeit und Sonnenaufgang vorschreibt –
wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat: hier ist er.
Der Text ist 1920 in Heft 48 der Weltbühne erschienen.