Der französische Fernsehsender France 2 widmet sich in einer Serie kurzer Filme der Kunst. Jedesmal wird in eineinhalb bis zwei Minuten ein Bild vorgestellt – und eine Geschichte zum Bild erzählt, die darüber hinaus geht. In dieser Ausgabe wird das Porträt Walter Mehrings von George Grosz aus dem Jahr 1925 vorgestellt.
Schlagwort: George Grosz
„Die Fleißer und (auf anderem Feld) Walter Mehring sind von den Jüngeren die stärksten Könner.“
Alfred Kerr 1929
Bei der Verhaftung meinte der Dorfpolizist des südfranzösischen Fleckens Perpignan gewiß, in dem abgerissenen Vagabunden mit falschem Paß einen großen Fang gemacht zu haben; daß er einen modernen Villon fast ans Messer lieferte, konnte er nicht wissen. Das war 1941, Walter Mehring lebte seit 20 Jahren in Paris, aber der Sichtvermerk der „Sûreté Nationale Marseille“, mit dessen Hilfe er dem Sammellager für staatenlose Ausländer und dem ganzen mordhungrigen Kontinent Europa entkommen konnte, liest sich wie eine Überschrift für sein Leben: „Gültig zur einmaligen Ausreise – sans idée de retour…“
So hat er sich selber stets gesehen. Als Willy Haas seine Arbeiten einmal charakterisierte: „und doch kommt Mehring von anderswo her und mündet anderswo .. schrieb er dem Kritiker einen Brief: „Nun, wo auch immer, jedenfalls bei keiner herrschenden Anschauung.“ Das war die Querköpfigkeit, die ihm schon der Deutschpauker des Königlichen Wilhelmgymnasiums in Berlins Bellevuestraße bescheinigt hatte – ein Heft wurde stets neben den Stapel der Aufsätze auf den Katheder gelegt: „Die meisten haben das Thema, richtig behandelt – nur unser Freund Mehring ist natürlich anderer Meinung.“ Er war immer „anderer Meinung“, und er hat dann „das Thema richtig behandelt“, hat den Mann – der dem Primaner Mehring noch kürz vor der Einberufung zu einem Ersatzbataillon einen „Verweis wegen unpatriotischen Verhaltens erteilte – zum Typ gemacht in seiner Untertan-Fabel „Müller – Chronik einer deutschen Sippe“.
Der ganze Text von Fritz J. Raddatz findet sich hier im ZEIT-Archiv…
Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht. Da ist die Dirne nicht aus ihrem Wesen heraus gestaltet, sondern aus der falschen Vogelperspektive ihrer Gelegenheitsbesucher gutbürgerlicher Provenienz. Standpunkt des beschwipsten Zynikers, der voll beleidigender Bonhomie ein »fideles« Unterwelt-Gastsspiel gibt. Oder des Romantikers, der sich selber berauscht an seinem arroganten, bequemen Mitleid. Wedekinds dämonische Beschwörung dieser Sphären ist nicht beliebt, macht denen Unbehagen, die in ihrer Selbstgefälligkeit nicht gestört sein mögen und gewohnt sind, über Abgründe sich hinwegzuwitzeln. Nicht die erstarrte Maske, sondern der zwinkernde Rouéblick, nicht eines Dichters unerbittliche Stimme, sondern des Commis voyageurs fettes Schnalzen gilt. Beispiele für die erträgliche und die unerträgliche Manier solcher Kabarettliteratur bietet Leo Hellers Sammlung Aus Pennen und Kaschemmen. Goldschnittlyrik mit dem Thema: Berlin NO. Nur ein paar Nummern haben ihre Stärke in der Eignung zum Vortragsmaterial insofern, als sie von vornherein gestellt sind auf die besondere Situations- und Ausdruckszuspitzung, auf den eignen Tonfall der Brettl-Brauchbarkeit. Die Schwindelatmosphäre des Berliner Kriegs- und Nachkriegsbetriebs, diese Hochstapler- und Vabanquestimmung mit ihrem Gemisch aus Wüsten, Feilschen, Bluffen, Talmikavaliertum, Nuttigkeit, Versumpfung, Gezappel, nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marsch artigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafter Geschäftigkeit, im rechten Grammophonrhythmus, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen, in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters und in hanebüchner Prosa von Raoul Hausmann. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Vogelfreiheit und Konventionslosigkeit ihres Werkes für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger bleiben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, dessen Verse voll spontaner Explosion und bittrer Sachlichkeit sind, radikal ohne radikale Form allerdings, und über die lebensechte, ursprüngliche, schicksalhafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings fort bis zu Bert Brecht, dem dramatischen Gestalter von gesellschaftsfeindlichen, schwärmenden und wüstenden Urtumsexistenzen, dem erschütternden Bänkelsänger der wilden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten.
Der unnachahmliche Ausbund von einem lebensechten Vagantenpoeten aber ist Joachim Ringelnatz, heutiger Franccis Villon, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich Veralkeholisiertes, Urviechiges, mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für sei nen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. Einst war er nur ein Münchner Unikum, als Boetticher einer von den Hauspoeten im »Simplizissimus« der Kathi Kobus, der in Morgensternartigen Sächelchen wie der Schnupftabaksdose den Durchschnitt kaum überragte. Aber in den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch schuf er sich dann eine ganz eigentümliche, barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens. Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als »ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen Umwelt, daß man sich in nebulose seemännische Gruseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur vorgestellten exotischen und erotischen Abenteuern träumt, und schließlich in allem als Kind dasteht, himmlisches, boshaftes Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig fallend von nichts mehr weiß.
Dieselbe göttliche Naivität herrscht in allen drei Büchern und überall grenzt sie nahe an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber darin ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerißner Dichtermensch ist, kennt das, wie man dicht nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörensches haben kann und muß. Dieselben Grundelemente finden sich in allen drei Werken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weit absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt, und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit mancher Verse ist kein Gefühls- oder Gewissensmangel, eher der Überfluß daran, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der tatsächlichen Majorität der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Heut tritt Ringelnatz in allen größeren Kabaretts Deutschlands auf, und wie er seine Dichtungen bringt, mit dem vollkommnen Eindruck des Improvisierens, schnapsselig über der Situation Stehens, großzügiger Liederlichkeit, das paßt so vorzüglich zu seinem Vortragsmaterial, daß aus Mensch, Poet, Rezitation und Carmen die komplette Einheit geschaffen ist. Wirklich heutigen Dichters Wesen kann nur sein die undefinierbare, im Grund doch grausliche und höllische Mittellage zwischen Tragik und (noch mit Tragik getränktem) Grinsen. Ringelnatz verkörpert sie auf eine ganz originelle Art, und wie er z. B. die Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument nicht vorträgt, sondern zu einem prägnanten Drama leibhaftigen Erlebens macht, muß auch dem Stumpferen beigebracht sein, daß des grotesken Dichters (wie jeglichen wahren Dichters) Element die Tragik, die unleugbare, unentrinnbare Daseins-Tragik bleibt.
Ein Dichter, der nie direkt fürs Kabarett schrieb und leider bis jetzt noch von keinem Kabarett gebracht wurde, dennoch für ein wirklich im Geistigen radikales Kabarett der Dichter von überlegner Originalität und Unnahbarkeit wäre, ist Gottfried Benn. Die Vehemenz seines Griffes ist ohnegleichen, und alles ist das schroffste Gegenteil von Sentimentalität. Die Gattung Couplet ist gesteigert ins schonungslos Vernichtende, daß die Fronde der besten bisherigen Angriffs-Chansons tief unter Benns Nihilismus bleibt, weil jene die Feindschaft innerhalb derselben Welt, Benns Dichtungen aber brückenlosen Bruch bedeuten. (Eine Wucht, die zu geißeln weiß, ohne in Eckengezänk zu vernörgeln, teilt ihre gut gezielten Bewegungen aus. Seine Dichtung, traditionslos heidnischen Geistes voll, bombardiert die Erstarrung, Stupidität, Verdünnung und Entblutung des Daseins. Und als Benn über ein Preisausschreiben »für das beste deutsche Chanson« als über ein Symptom der Zeit sich ärgerte, schrieb er einen Prolog- über einen deutschen Dichterwettstreit [Die Aktion, Jahrgang 12, Nr. 9/10], der ingrimmig das ganze Repertoire heutigen »Kultur«-Schwindels bucht und als Vernichtung durchschnittlich kabarettistischen Animierbetriebs zugleich das idealste Vortragsmaterial für ein faktisch gefährliches Revolte-Kabarett darstellt.)
Ein Chanson zu schreiben, das sich vollkommen mit dem deckt, was die Gattung fordert, ist eine Aufgabe, deren Schwierigkeit man nicht unterschätzen darf. Autoren, die das konnten und sich auf die spezifischen Bedürfnisse des Kabaretts bewußt einzurichten verstanden, direkte Kabarettautoren von wirklichem Rang gab es in Deutschland lange nicht. Um 1919 erst existieren zwei Leute, die als Kabarettautoren ernsthaft in Betracht kommen: Kurt Tucholsky und Walter Mehring. Kurt Tucholsky, unter diesem Namen und unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger Hauptmitarbeiter der Jacobsohnschen »Weltbühne«, hat eine Fülle witziger Couplets geschaffen, die das bis dahin übliche Niveau noch überragen. Sie sind meist angriffslustig in einer gewissen Texten versorgen kann, daß eine gute Humoristin alten Stils, etwa Else Ward, und die Repräsentanten neuster Ausdrucksform (die Holl, die Ebinger, Paul Graetz) seine Chansons bringen. Er hat oft sehr gut den rechten Berliner Ton getroffen, in der Dame mit’n Avec und in den Soloszenen, die er für Graetz schrieb. Eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete Walter Mehring. Er begann damit, die alte Berliner Gassenhauer-Tradition mit neuster Ätzung und Wuppdizität zu beleben. Da gelangen ihm so vorbildliche Treffer wie Deutscher Liebesfrühling 1919, ‚Fräulein lrene, Couplet en voltige. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortrags-Schwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiednen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder (Die Kartenhexe, Zum blauen Affen, Cabaret Schwalbennest, die Kehrreimweise Moralisches Glockengeläute, Kinderlied), eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte (Graduale) und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Technik, wie es beispiellos leuchtet in Die Reklame bemächtigt sich des Lebens. Es muß noch einmal gradezu konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortrags-Elan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdrückt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettl-Dichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale. Er erwischt alte und neue Medien grade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und die eigne tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des Kaukasierliedes, mixt aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain eine Jazzband, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Popularität des Berliner Volkslieds in eine ganz gegenwärtige Vehemenz. Diejenigen haben aber Unrecht, die den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter möchten gelten lassen, wenn er auch, unter anderm, den Jargon des »Berliner Schlagers« wie kein zweiter Meister, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Aber Mehrings Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, Pficht nur der größre Rummelplatz Berlin, sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin, Mehrings Sujets sind international, er beherrscht viele Register, und er läßt sich auch nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefühlsnuance festlegen. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemütslosigkeit ist die Signatur, mit der man ihn abstempelt, aber dann wird man bei ihm auf einmal von Sachen beunruhigt, die so gar nicht ins Schema passen, wie Die Kiilte oder Die roten Schuhe, wo ein schnoddriger Spötterpoetisch kommt. Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zur Ehrerbietung anführen läßt (und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt), aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Anbetung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels Weiße Messe, zu den »Geißelliedern« Lita nei und Schwarze Ostern. Mehrings Schöpfungen haben ihren Platz im Repertoire der wesentlichen neuen Kabarettkünstler (Gussy Holl, Rosa Valetti, Trude Hesterberg, Blandine Ebinger, Kate Kühl, Erika von Thellmann, Mady Christians, Kurt Gerron, Fritz Kampers, Gustav von Wangenheim sangen sie), man kann ein ganzes ideales Kabarettprogramm allein aus seinen Büchern zusammenstellen mit Berlinischem, Ländlichem, Internationalem, mit Sentimentalem und Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr, wobei für Ankurbelung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang bestens gesorgt wäre. Da gäbe es pompöse Monstrestücke wie die Arie der großen Hure Presse und Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom Abenteurer und vom Highwaymann, hinterhältige Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt und Bergerette. Dann ganz große, Stimmung der Weltstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke Die Maschinen, wundervoll grinsende Ironie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel If the man in the moon, robustes Chanson Die Gardekiirassiere, schnuppige, unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentstrophen Die vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute und schließlich die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich kenne, die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Mehring-Nachahmer und -Epigonen gibt es nun schon die Masse (man findet sie sogar in den Animierkabaretts der Friedrich- und Jägerstraße, wo die Sache allerdings ganz verplattet und veräußerlicht wird). Noch verhältnismäßig selbständig dagegen bediente sich Hans Janowitz des Mehringstils, indem er ihn mehr mit seiner weicheren, laueren, gefälligeren Art durchtränkte und plausibel machte. (Das ergab Sachen wie den Nachtspaziergang 1921 bis zu so nichtssagenden Massenartikeln wie Wenn der Morgen graut, nimm dir keine Braut dem Autobus-Chanson und dem Javalied.).
Der Schauspieler Hermann Vallentin kommt aus seiner eignen temperamentvollen Menschlichkeit und Drastik und aus einer gewissen verständnisinnigen Lebensbeobachtung zu ein paar Couplet-Texten voll Mutterwitz und echt Berlinischer Mischung aus Rührung und schlagfertiger Laune. Sein Dornröschen auf dem Wedding wurde von Blandine Ebinger gesungen, Wenn der Frühling in die Höfe steigt von Annemarie Haase, Sind’s die Augen, geh‘ zu Buhnke leider nur von einer matten Kopie der Ebinger. Das Lied von der republikanischen Droschke, Eine Viertelstunde Zeitgeist, Der Mann ohne Namen trug er selbst vor. Klabund, der alles kann, hat eigentlich auch in seinen Kabarett-Texten keine eigne Note, nur, daß es immer gefällig brauchbar gemacht ist, sei es ein Hamburger Hurenlied (das die Häusinger zur Laute sang), eine Soloszene Der Spieler (vom Schauspieler Hubert von Meyerinck gestaltet) oder zuerst von der Ebinger gesungne Piecen wie Deutsches Volkslied oder die kessen Chansons Wo andre gehrt, da muß ich fliegen und Ich baumle mit de Beene. Jetzt beliefert am eifrigsten die Kabaretts mit Texten Marcellus Schiffer. Der ist schon sozusagen ein Routinier des Chansontextes, aber in einer mittleren Position, zwischen dem Kabarett – Dichter Mehring und über den vielen kleinen Zufall-Schreiberchen, die glauben, sich den Kabarettstil angeeignet zu haben, wenn sie in schwüler Stimmung oder in kesser übertriebenheit versiert sind. Schiffer hat wirklich eine direkte Kabarettbegabung, seine Texte sind oberflächlicher als die Mehrings, nicht so unterirdisch gefährlich, nicht so mit Sprengstoff geladen, aber doch meist mit dem Zynismus eines überlegnen Intellekts gespeist, der sich nicht düpieren läßt. Auch er beherrscht mancherlei Walzen: kann zierliche, kunstgewerbliche Reizsächelchen machen wie Chinoiserie, derbe Humoresken wie Immer Emma, hat immer wieder zeitgemäße Einfälle, läßt einmal eine Midinette, einmal eine Hoteldiebin, einmal einen wohnungssuchenden »möblierten Herrn«, einmal eine Fliegentütenjungfrau, einmal ein Fräulein Raffke erscheinen. Die Schlagworte und Modesprüche bringt er sofort geschickt in der richtigen sarkastischen Umformung unter: Jeder Mann sein eigenes Niveau, Verständigungspolitik, Ick hab mir jarnischt bei jedacht. Schließlich die Höhepunkte seiner Produktion sind jene hemmungslosen Persiflagen erotischen Schwindels: Eine beßre Sache, Die Perverse, Die Linie der Mode, Die Minderjährige und die Kinderlieder.) Auch sein Schaffen ist nicht auf einen einzigen, in einer bestimmten Linie talentierten Künstler zugeschnitten: es gab so verschiednen Temperamenten und Typen wie Bendow, Benofsky, Rose Müller, Dora Paulsen, Annemarie Haase, Kate Kühl, Margo Lion den grade für sie richtigen Stoff.
Komponisten des heutigen Kabaretts sind Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, Mischa Spoliansky, Victor Heermann, Stefan Meisel, Allan Gray, Clauberg, Michael Krauss, Hermann Krome. Victor Heermann hat eine Süße, etwas Lyrisches, das ein Altes Rokokolied besonders einprägsam macht oder Schiffers Chinoiserie oder zierliche Gedichte von Franz Hessel. Gelegentlich kann er allerdings auch etwas Robusteres (Wozu in’n Kintopp?) sachgemäß vertonen. Seine beste Interpretin bleibt seine Schwester Belly. Mischa Spoliansky stellt am schmissigsten den grotesken, vigilanten und prägnanten Rhythmus des modernen Getriebes dar. So brachte er Schiffers Frozzeleien, Vallentins Wenn der Frühling in die Höfe steigt, den Matrosensang und meine eigne Rummelplatz-Persiflage vom Wilden Mädchen Kuddly auf die wirksamste Pointe. Werner Richard Heymann ist ein Musiker von vielen Graden. Er hat die Melodie, die verführerische, einschmeichelnde, manchmal bis ins fast Süßliche entschwebende Melodie! Und er hat auch die Fähigkeit zur großen ernsthaften Aufmachung. So gab er die einfache Weise zu Ottakring, Ich und mein Freund, Cascan, Wiegenlied, die graziöse zu Kleine Stadt, Midinette, Schattenfox, den Aufwand für die Arie der gro(3en Hure Presse und das Lied der Fürstin Trubetzkoi, das Balladeske für Charlot und den Abenteurer, das Parodistische für Lulaley, Zirkus, Madagaskar. Mehring erklärte mir, der völlig adäquate Komponist für seine Dichtungen sei noch nicht gefunden. Trotz Friedrich Hollaender, der für mein Gefühl bis jetzt am sichersten einen eignen Brettlstil schuf, Texte von Mehring, in der Spannungsweite von Blocksberg bis Mein Herz mit reinster Einfühlung vertonte und oft mit Erfolg sein eigner Autor war. Amerikanisches Riesenspielzeug, Rattenfänger, Russischer Holzschnitt, Kleine Internationale sind auch vom Komponisten aus so gut bedacht, daß sie mit dem richtigen Schwung und soviel farbiger, graziöser Tonmalerei, wie jedes von ihnen bedarf, zum Gesamtkunstwerk von holdem „Wuchs sich runden. Und einmal haben Walter Mehring, Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender miteinander das Idealkabarett doch zumindest vorgezeichnet.
Neuere deutsche Kabarettdichtung
Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.
Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.
Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.
Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.
Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.
Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.
Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.
Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.
Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.
1925 hat George Grosz seinen Freund Walter Mehring gemalt. Schon fast ein Jahrzehnt kennen wie sich zu diesem Zeitpunkt. Vor allem als Dadaisten hat sich eine Freundschaft entwickelt, die auch im Exil halten wird.
Wikipaitings.org hat das Bild online gestellt. 90 mal 80 cm ist das Bild groß.
„Deutschland ist pleite. Europa wird es bald sein. Der Pleitegeier ist der heraldische Vogel dieser Epoche. Er schwebt, wie einst Noahs Taube, über der Sintflut der Kriege und Resolutionen, ein Bündel preußische Konsols im Schnabel. Der Malikverlag in Berlin-Halensee hat ihn sich zum Wappentier erkoren für eine satirische Zeit- und Streitschrift: „Die Pleite“ benannt. Seitdem die „Jugend“ vorzeitig gealtert und vergreist ist, die Bulldogge des „Simplizissimus“ sich in ein zahmes Wachtelhündchen verwandelt hat, das nur den Mond noch, nicht mehr diese Erde anzubellen wagt, ist diese in den Preußenfarben schwarz und weiß gedruckte kleine Zeitschrift die einzige, welche mit rabiatem Witz und agressivem Geist die innerpolitische Satire vertritt. Walter Mehring attackiert „immer stieke mit Musike die deutsche Republike“. Er ist ein berlinischer Beranger en miniature. Georg Groß wirft mit ein paar bösen kinderhaften Strichen -die Marloh, Reinhardt, Noske aufs‘ Papier. ‚Sie müssen ihm Modell liegen. Er kniet auf ihnen.‘ Er ist der Daumier von Plötzensee. Wieland Herzfelde gibt die „Pleite“ heraus. Er edierte nebenbei eine Broschüre über seine Schutzhafterlebnisse, die alle ehemaligen Schutzhäftlinge wie ein Stück ihrer eigenen Biographie lesen werden.“
Klabund (i.e. Alfred Henschke) in der „Neuen Bücherschau“, Heft 6, 1919, S. 6.