Gedichte von Erich Kästner, Walter Mehring, Ernst Toller, Erich Arendt, Max Ophüls, Alfred Kerr, Emil Ginkel, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Erhard Winzer und Oskar Maria Graf sind in dieser Anthologie deutscher Exildichtung aus den Niederlanden versammelt. Auf 47 Seiten Martien Beversluis eine einigermaßen repräsentative Auswahl nicht nur zusammengestellt, sondern auch übersetzt. „Brandende Woorden uit Duitschland“ heißt der Band – Verbrannte Worte aus Deutschland.
Beversluis (1894 – 1966) stammte aus einer Pfarrersfamilie. Er dichtete und engagierte sich für die sozialistische Sache. In dieser Phase entstand auch dieser Band bei den Buchfreunden Solidarität (Boekenvrienden „Solidariteit“) in Hilversum. Aber sein linkes Engagement blieb temporär. Später mutierte er zum Nationalsozialisten, für deren Partei niederländische Partei er sogar Bürgermeister einer Kleinstadt wurde. Seine eigene Dichtung schreckte in den 1940er Jahren, den Jahren der deutschen Besatzung auch nicht vor antisemitischer Hetze zurück.
Doch im Jahr 1934 war das noch nicht absehbar. Beversluis arbeitete damals beim Arbeiter Rundfunk Verein (VARA). Hier lernte er Heinhz Kohn kennen, dem er bei seinem Verlagsprojekt Boekenvrienden „Solidariteit“ unterstützte. Els Andringa führt in seinem Buch über das Geflecht der deutschen und niederländischen Verflechtungen des Exils allerdings aus, dass Beversluis trotz seines späteren Antisemitismus keinen seiner Bekannten aus seiner sozialistischen Phase verraten haben soll.
Ein gutes dreiviertel Jahr nach der Bücherverbrennung in Berlin war das kleine Buchprojekt durchaus wichtig. Es zeugte tatsächlich von Sildarität. Und es versuchte Interesse für die verbannten Autoren und ihre verbrannten Texte zu wecken.
Uhu: Vier Künstler verfolgen zwei Damen im Bois de Boulogne
Im Jahr 1931 hatte die Redaktion des „Uhu“ eine schöne Idee. Lyriker sollten nach Bildern dichten und Karikaturisten nach Gedichten zeichnen. Heraus kam eine Stafette über eine Foto aus dem Bois de Boulogne von 1912.
„Dieses Foto gaben wir den dem Satirker Walter Melıring mit der Bitte, uns ein recht hübsclıes Gedicht dazu zu machen. Walter Mehrings Verse gaben wir dann an unsern Zeiclıner Horst v. Moellendorff mit der Bitte, uns eine recht hübsche Zeichnung dazu zu machen. Die Zeichnung von Horst v. Moellendorff gaben wir dann an den Lyriker Max Hermann-Neiße mit der Bitte, uns ein recht hübsches Gedicht dazu zu machen. Das
Gedicht von Max Hermann-Neiße gaben wir dann an unsern Mitarbeiter Otto Schmalhausen mit der Bitte, uns eine recht hübsche Zeichnung dazu zu machen. Jeder hat also nur die Arbeit seines Vorgängers als Anregung gehabt. Diese bunte Kette zeigt, wie – gleich einer Anekdote, die von Mund zu Mund wandert – ein so eiııfacher Vorgang bei der Weitergabe durch Auffassung, Temperament und Ausdrucksmittel verändert wird.“
____________________ Baemu leert auf einen Satz ____________________ sein falla Kúr – sein Súti-glas. ____________________ Heil den taégnal ____________________ Kiu, mein Schatz!
Walter Mehring ist mit seiner Übersetzung ein kühner Wurf gelungen und höchstwahrscheinlich hat er den sogenannten ibolithischen Janussatiriker im Verfasser unseres Vierzeilers identifiziert. Der Janussatiriker gehörte der inneren Emigration der Parteiepoche an und führte als erster Satiriker der Weltliteratur überhaupt einen Simultankrieg gegen die widerliche Heldenkürung der Partei und gegen die Vergötzung des Fußballsports. So spiegelt das Wortnetz seines Vierzeilers die damalige Form der Mannschaftsaufstellung beim Fußball.
Man spielte das VVV-W-System, wobei die Stürmer- und die vordere Läuferreihe das dreimalige ,V‘ bildeten, die zweite Läuferreihe und die beiden Torhüterinnen (Verteidiger kannte dieses angriffslustige Volk aus ideologischen Gründen nicht) zusammen das ,W‘. Dieses VVV-W-Gerüst füllt nun der Verfasser in genialer Form derart mit Schriftgut, daß die Zeileninhalte einerseits die Tätigkeitsweise zum Beispiel der Stürmerreihe oder der Torhüterreihe transzendieren und persifiieren (gewagt allerdings die Unterstellung lesbischen Treibens zwischen den herumflackenden (fiágedárad) Torhüterinnen), andrerseits aber den fragwürdigen Impuls des parteiamtlichen Staatsheldentums ohne direkte Angriffe und allein schon durch den beziehungsvollen Unterbau des ibolithischen Fußballsystems aufs Korn nehmen.
Baemu ist der ge-managte Volksheld, eine Art Parsifal der Ibolithen (wie Mehring ermittelt hat), der immer in der vordersten Linie steht, der sein Glas (gefüllt mit Tequila-Wodka, einem Cocktail der Eingeborenen) pflichtschuldigst auf die Parteigötzen (taégna) erhebt und sich dann, nach Ableistung des staatsbürgerlichen, dem biologischen Soll zuwendet. Mehring erläutert ,kiu‘ wie folgt: unübersetzbares Wortspiel- soviel wie
,Prost! – Ins Bett, mein Schatz! (ássa)‘.
Das oben stehende Gedicht in der ibolithischen Phantasiesprache ist von Heinz Grüning. Gut 100 deutschsprachige Dichter und Persönlichkeiten hatte er um eine Übersetzung gebeten. 46 beteiligten sich an dem literarischen Spiel – unter ihnen Walter Mehring, Hans Arp, Werner Bergengruen, Günter Eich, Hans Mgnus Enzensberger, Arthur Koestler Carlo Schmid. Heinz Grüning sammelte diese in einem amüsanten Buch und kommentierte die übersetzten Gedichte. Dabei gelang es ihm sehr gut, die Eigenheiten der einzelnen Autoren herauszuarbeiten. A.O.
Heinz Gültig (Hg.): baemu suti oder das ibolithische Vermächtnis – Ein literarisches Gesellschaftsspiel; Zürich: Diogenes Verlag 1959; S. 77 f.
„…Wir wollen uns lieber mit Hyänen duzen
als drüben mit den Volksgenossen heuln…“
Kleiner Leitsatz für alle Exile
aus
dem Emigrantenchoral
[Arche Noah SOS – zweiter Teil]
Walter Mehring
Wien 1. Juni 1966
Dieses Autograph Walter Mehrings ist in einem kleinen Band erschienen. Erich Fitzbauer hat in ihm Faksimiles von Dichterwidmungen und Aphorismen veröffentlicht, die seine Frau und er gesammelt haben. Erich Fitzbauer (Hg.): Einkehr in ein älteres Haus – Aphorismen und Zitate in Vers und Prosa; Wien: Edition Graphischer Zirkel 2000.
Walter Mehrings neueste Coupletsamınlung gibt das Muster eines richtigen Kabarettabends mit Conference und vier Hauptabteilungen. Dieses Muster hat Vielfalt, geistigen wie artistischen Gehalt. Form, Gliederung, Originalität und Anarchie des Gedankens. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Seine Verse hämmern sich beim bloßen Lesen ein, sind auch fürs Auge allein schon komponierte Texte. Dabei ergibt sich die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder „Die Kartenhexe“, „Zum Blauen Affen“, „Cabaret Schwalbennest“), die Kehrreimweise („Moralisches Glockengeläute,“ „Kinderlied“), eine Simultaneität, die von der »Fortgeschrittenen Lyrik« manches nutzte „Graduale“), und schließlich das originalste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Teclmik, wie es beispiellos leuchtet in „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens“. Es muß einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtgetriebes exakt ausdrückt, und so etwas wie einen ››EXpressionismus« der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie „Achtung Gleisdreieck“, „Sensation“, „Salto mortale!“ Er erwischt alte und neue Medien gerade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und eine eigene tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des „Kaukasierliedes“, mit aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain einen „Jazzband“, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Populariät des Berliner Gassenhauers in eine ganz gegenwärtige Vehemenz.
Diejenigen, die zu Unrecht den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter gelten lassen möchten, werden durch die Vielseitigkeit dieser Sammlung eines Besseren belehrt; aber das eine stimmt, daß Mehring, unter anderem, den Jargon des »Berliner Schlagers«
wie kein zweiter meistert, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Sein Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, nicht nur der größre Rummelplatz Berlin,
sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin. Dies Buch zeigt die Internationalität seiner Sujets und beweist auch, daß Mehring sich nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefülsnuance festlegen läßt. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemüstlosigkeit war die Signatur, mit der man ihn abstempelte, und nun beunruhigen hier in diesem Bändchen auf einmal so gar nicht ins Schema passende Sachen wie z. B. „Die Kälte“, wo ein schnoddriger Spötter – poetisch kommt! Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zu Ehrerhietung anführen läßt und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt, aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Besaitung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels „Die schwarze Messe“. Ein so scharfer Revoltedrang in diesem Schlußstück rumort oder in den Geißelliedern „Litanei“ und „Schwarze Ostern“ – es scheint mir eine Gefahr des Menschenmißtrauens, daß es in der Wirkung das Aufrührerische verliert und dem Publikum als eine bequeme Weltanschauung, die jedes Passivbleiben deckt, wohl eingeht. Alles gleichermaßen zum Speien finden, heißt: sichs allzu leicht machen. Mehring sollte, diesem Verdacht zu entgehn, nicht ganz ohne Route sein. Sonst sieht, was als Gegenteil geplant war, wie Kompromiß aus, der Durchschnitt hört sich doch bloß heraus, was ihm paßt, aus dem „Nekrolog“: „Hetzern . . . uns uffzuwiegeln“ und aus dem Berliner Tempo eine lokalpatriotische Bestätigung.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehring: Das Ketzerbrevier; erschienen in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 213 vom 7. Mai 1922.
Das ist mehr als das brauchbarste Arsenal für ein radikal kämpferisches, überlegen geistiges Kabarett, das ist ein lyrischer Zeitspiegel von gewíssenhafter Schärfe und unerbittlichem Wahrheitsmut. Einem sintflutwürdigen Weltzustand sagen diese saftigen Gesänge die bittere Meinung. Mehring hat hier zwei herrliche Eigenschaften, die bei der heute üblichen Art der Künstler, sich vor eindeutiger Stellungnahme zu drücken, dumm zu stellen, in neutrale Spielplätze zu retten, ebenso selten wie aller Ehren wert sind. Er bekennt sich zu seinen menschlichen, freiheitlichen Prinzipien nicht Weniger mannhaft, als das die Anhänger barbarischer Ansichten zu tun pflegen. Und er kann seine Überzeugung auf eine Art ausdrücken, die jedem Menschen leicht eingeht und auch dem Einfachsten sich mit ihrer volkstümlichen Musik einprägt. Es ist stilistisch interessant, die Entwicklung seiner Form zu beobachten. Da wurde aus der Tradition von Pottier bis Bruant und einem Schuß Spreewasser mit Zielsicherheit diese jetzt ganz gefestigte, unverwechselbare Walter-Mehring-Weis, eine Diktion, die den einfachsten Ausdruck, Vertrautheit mit allerlei Mundartlichkeit, ein drängendes Vorwärts im Rhythmus, echte Keßheit und ebenso echte Herzlichkeit niet- und nagelfest eint und in sicherlich strenger Arbeit zum straffpointierten Schlager stählt. Ein Bänkelsang-Swift, möcht man sprechen, wobei das Wort Bänkelsang keine Herabsetzung sein soll, im Gegenteil, die Anerkennung, wie nah Mehring dem heut möglichen Begriff Volkslied kommt. Wer Ohren hatte zu hören, konnte es schon aus Mehrings früheren Werken heraushören; in diesem neuen Bande dürfte es wohl auch für Begriffsstutzigere spürbar sein, daß Mehring auf seine Fasson ein ernst zu nehmender, echter Lyriker ist. Das ist keine journalistische Fixigkeit, die aus der Zeit gereimte Zeilen schindet, sondern liebebedürftiges, liebewilliges Poetentum, das an der Tücke des gegenwärtigen Tatbestandes leidet. Die Provokation kommt aus der eigenen Todesverzweiflung, das Segenswort für alle Art Kummer ist so drastisch, wie es sein muß. Die „Kantate von Krieg, Frieden und Inflation“ enthält akkurat die krasse Wahrheit über ein Stück Historie, aus dem sinnlosen Wüsten unserer sogenannten Rechtspflege werden drei besonders arge Fälle konserviert, „Gebet über Beuthen“ ist hochaktuell als massive Absage an allen nationalen Beneblungsdreh. Schließlich gibt es die phantastischen, überlebensgroßen Gebilde „Mond und Liebe über großen Städten“, „Singweise vom Paradies“ (in wundervoller Leichtigkeit und Grazie), zuletzt nimmt Mehrings Ton etwas von Benn an („Das Lied vom Schlaf der Tier- und Menschenjungen“ und „Die betrübte Ballade vom Menschen und den Tieren“) und mündet damit in den richtigen, für ihn zuständigen Himmel.
„Arche Noah SOS“ ist ein gewichtiger, mit eigener Geistigkeit bewehrter, mit unwiderstehlicher Musik werbender Dichterangriff auf
die deutsche Kulturreaktion.
Max Herrmann-Neiße: Walter Mehring: Arche Noah SOS; erschienen in: Die literarische Welt, 7. Jg. Nr. 19, Berlin 1931.
Walter Mehring
CHRONIK DER LUSTBARKEITEN
Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918-1933
536 Seiten, Pappband, claassen Verlag GmbH, Düsseldorf, DM 38,–
STAATENLOS IM NIRGENDWO
Die Gedichte, Lieder und Chansons 1933-1974
276 Seiten, Pappband, claassen Verlag GmbH, Düsseldorf, DM 28,–
Beide Bände zusammen in Kassette: DM 58,–
Walter Mehrings Hauptwerk, die Gedichte, Lieder und Chansons aus über 50 Jahren, verstreut publiziert in 15 Gedicht- und Auswahlbänden sowie in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, erscheinen nun zum ersten Mal gesammelt.
Der erste Band, die CHRONIK DER LUSTBARKEITEN, enthält die Gedichte von 1918 bis 1933: von den ersten, in Herwarth Waldens „Sturm veröffentlichten expressionistischen „Verben-Kaskaden“ bis zu der berühmt gewordenen „Sage vom großen Krebs“, die in der „Weltbühne“ erschien, als Mehring bereits im Zug nach Paris saß und einem mehr als 20jährigen Exil entgegenfuhr. Viele dieser Gedichte, insbesondere die skandalträchtigen Dada-Verse und die politischen Satiren, sind später nie wieder gedruckt worden. Der Leser wird also Entdeckungen machen können und neben den „Schlagern“ aus Mehrings ( beraus erflolgreicher) Kabarettzeit unbekannte (zum Teil in Buchform noch nie publizierte) Gedichte und Songs finden. Er wird feststellen, daß Mehring sehr viel mehr ist als der Kabarettdichter aus Max Reinhards (sic!) „Schall und Rauch“ oder Trude Hesterbergs „Wilder Bühne“. Er wird einen Lyriker entdecken, der in seiner Poesie neue und auf verblüffende Weise moderne Ausdrucksformen gefunden hat. Mit welcher intuitiven Sicherheit er Litanei, Bänkelsang, Gassenhauer, Chanson, Couplet und Ballade auf ganz eigene, bisher nie dagewesene Weise verwendete, macht die CHRONIK DER LUSTBARKEITEN schlagend deutlich.
Mehrings Balladen und Chansons über die großen und kleinen Leute, über Polizeipräsidenten, Kaiser, Seeleute, Fememörder, Spießer und politische Rattenfänger enthalten „akkurat die krasse Wahrheit“ (Max Herrmann-Neiße), und fast visionär nehmen viele vorweg, was 1933 politische Wirklichkeit werden sollte. Provozierend und sensibel trafen sie die Zeitstimmung, spiegeln eine ganze Epoche, und sind doch – heute wieder gelesen – viel mehr als Zeitgedichte: die „herrlich gereimten Lieder von einem in Deutschland fast nie gesehenen Wortreichtrum“ (Tucholsky) gehören zum festen Bestand der Poesie dieses Jahrhunderts. Nicht nur Brecht hat von Mehring gelernt; Tucholsky schrieb in einer begeisterten Rezension: „unfaßbar die Technik, wie der Refrain an die Vorstrophe herangeflogen kommt – vom Himmel hoch, da kommt er her. (…) Grund genug, diese Chansons doppelt zu lieben.“
Die Gedichte des zweiten Versbandes, STAATENLOS IM NIRGENDWO, sind fast ausschließlich im Exil entstanden. Mit trotziger Melancholie und tönender Verzweiflung über „das bißchen Vaterland“ und das, was im Reich passierte, schrieb Mehring Verse, die das Lebensgefühl der Exilierten paradigmatisch zum Ausdruck brachten. Die „Ode an Berlin“, „Die kleinen Hotels“ oder der „Emigrantenchoral“ gehören neben den schon im amerikanischen Exil berühmt gewordenen 12 „Briefen aus der Mitternacht“ sicher zum besten, was zwischen 1933 und 1945 zu diesem Thema geschrieben wurde.
Auch im zweiten Band sind zahlreiche Gedichte, nach Hitlers Machtantritt in verschiedenen antifaschistischen Zeitschriften in Prag, Paris, Zürich, New York, Buenos Aires u.a. erschienen, zum ersten Mal in Buchform veröffentlicht. Zwei Gedichte, eines aus dem amerikanischen Exil und ein weiteres aus dem Jahre 1966, sind Erstveröffentlichungen.
Die CHRONIK DER LUSTBARKEITEN ebenso wie STAATENLOS IM NIRGENDWO enthalten Gedichtfassungen in endgültiger Textgestalt. Die Anmerkungen geben zu den einzelnen Gedichten bibliographische und inhaltliche Hinweise (Erstdruck, Überarbeitungen, zeitgeschichtliche Erläuterungen). Ein ausführliches Nachwort des Herausgebers zu jedem Band führt den Leser in Biographie und Werk Mehrings ein. Im Anhang sind jeweils zeitgenössische Kritiken zu den einzelnen Versbänden abgedruckt, u.a. von Kurt Tucholsky, Max Herrmann-Neiße, Joseph Roth, Hans Sahl, George Grosz u.v.a.
Grosz hat Mehring den „Villon von der Spree“ genannt, andere haben ihn mit Heinrich Heine verglichen, und doch ist die vielschichtige, frappierend „heutige“ Poesie Mehrings mit solchen Kategorisierungen kaum zu fassen. Der Leser hat nun zum ersten Mal die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild zu machen von diesem großen Dichter Walter Mehring, der sich als Satiriker radikal mit seiner Zeit auseinandergesetzt hat und mit seinem Werk doch weit über sie hinausweist – wie alle große Dichtung.
Walter Mehring
wurde am 29. April 1896 in Berlin geboren. Die ersten Gedichte veröffentlichte er 1918 in Herwarth Waldens „Sturm“ und in verschiedenen Dada-
Zeitschriften. Seine Gedichte, Lieder und Chansons machten ihn früh berühmt und bald bei den Nationalsozialisten verhaßt. 1933 entging Mehring nur knapp seiner Verhaftung durch die SA, er emigrierte, wurde 1939 und 1940 in Frankreich interniert und entkam 1941 in die USA. Nach dem Kriege kehrte er nach Europa zurück. Heute lebt er in einem Pflegeheim in Zürich.
In der Walter-Mehring-Werkausgabe bei claassen sind erschienen: „Müller. Chronik einer deutschen Sippe“. Roman; „Die verlorene Bibliothek“. Autobiographie einer Kultur; „Wir müssen weiter“. Fragmente aus dem Exil; „Die höllische Komödie“, Drei Dramen; „Paris in Brand“. Roman; „Algier oder Die 13 Oasenwunder/Westnordwestviertelwest“. Zwei Novellen; Die Walter-Mehring-Werkausgabe wird herausgegeben
von Christoph Buchwald.
Die Pressesstelle des Claassen-Verlags hat diesen Pressetext als “Besprechungsunterlage” mit dem Band für die Rezension verschickt. Zwei Belege der Rezension hat sich der Verlag von den Rezensenten erbeten. (A.O.)
Man liest sich durch diesen satirischen Balladen- und Chanson-Band ohne aufzuhören, so frech und couragiert, so brillant in der Form wird hier gestritten, gefrotzelt, gespottet, verhöhnt und aufgetrumpft. Aber auch sehr zarte Verse stehen darin, die in jeder lyrischen Andachtsstunde ankommen würden. Walter Mehring ist ein sehr vielseitiges, ein typisches Kabarett-Talent – kein Wunder, dass sich Kurt Tucholsky für diesen politischen Dichter so begeistern konnte. „Wir haben kaum Ansätze zu einem Cabaret“, bekannte er einmal, „Mehring steht im Buch – diese grosse Begabung verbleibt im Buch und auf dem Papier,“ wo in Deutschland alles steht. Grund genug, diese besten Chansons, die nicht von Kipling sind und nicht von Villon und nicht von Herrn Lax… Grund genug, diese Chansonso doppelt zu lieben …