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1966 Rezensionen Zeitschriften

Walter Mehring bespricht im Spiegel eine Anthologie zur Weltbühne und zum Tagebuch

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Im Dezember 1966 bespricht Walter Mehring im „Spiegel“ (Nr. 49/1966, S. 163) eine Anthologie über die „Weltbühne“ und das „Tagebuch“ des Dichters Wolfgang Weyrauch. Dabei geht er auch auf den Fall Josef Jakubowski ein, einem der großen Justizskandale der Weimarer Republik. Der Text ist von einer interssierten Distanz zur eigenen Geschichte geprägt. Mehring hält die Anthologie für „kulturell wertvoll“ im Sinne einer guten Ergänzung zum Geschichtsunterricht. Der einzige aktuelle Aspekt für ihn sind Hinweise auf die DDR-Zensur, da die Rechte für die Texte der Weltbühne in Ost-Berlin liegen:  

EMPÖRUNG ALS KONSERVE
Walter Mehring über die Antholgie als „Weltbühne“ und „Tagebuch“: „Ausnahmezustand“

Von Mehring, Walter

Walter Mehring, 70, gebürtiger Berliner, ist in den zwanziger Jahren, neben Tucholsky und Kästner, als Autor politischer Lyrik („Das Ketzerbrevier“), als satirischer Schriftsteller und zeitkritischer Publizist berühmt geworden. Er emigrierte 1933 aus Hitlers Deutschland und entkam 1941 aus Frankreich nach den USA. Im Exil entstand seine „Autobiographie einer Kultur“ „Die verlorene Bibliothek“. Mehring, der Mitarbeiter von „Weltbühne“ und „Tagebuch“ war und mit mehreren Beiträgen, in der hier von ihm besprochenen Anthologie vertreten ist, lebt heute in Ascona. – Wolfgang Weyrauch, 59, schrieb Erzählungen, Gedichte und Hörspiele („Anabasis“) und trat mehrfach als Herausgeber von literarisch-politischen Anthologien („Ich lebe in der Bundesrepublik“) hervor.

Ein greiser (doch noch nicht weiser) Autor erhielt kürzlich ein über 400-Seiten starkes Geschenk- und Belegexemplar, betitelt „Ausnahmezustand“ (was ihm zunächst nach einer staatsrechtlichen Abhandlung klang – Artikel 48 der Weimarer Verfassung), aber untertitelt: „Eine Anthologie aus ‚Weltbühne‘ und ‚Tagebuch'“.

Und das rührte, das berührte ihn wie ein Familienalbum von Geistesverwandten und Gesinnungsfreunden, mit denen er einmal Schulter an Schulter polemisiert hatte. Es tauchten da sogleich Assoziationen in ihm auf, Reminiszenzen an Feldpost- und Brotkarten, Dolchstoßlegende, Feme, Spartakus, Freikorpsputsche, Nackttanz-Dielen, Kokain, Kulturbolschewismus, Schmutz und-Schund-Gesetz, Gotteslästerungen (im Sinne der einschlägigen Paragraphen) und an „Die Hitlerei“. So lautet – ach, so harmlos – eine Kapitelüberschrift. Eine andere dagegen: „Der Krieg ist eine grauenhafte Schlächterei“. Fürwahr: Gelinde gesagt!

Fortsetzung im Archiv von Spiegel Online…

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1953 Rezensionen

Hermann Kesten freut sich über Mehrings „Verlorene Bibliothek“

Walter Mehring, der Sohn von Siegmar Mehring, dem Redakteur des „Ulk“ und Übersetzer von Walt Whitman, hat von seinem Vater, einem heitern Atheisten mit einem blinden Glauben an die Aufklärung der Menschheit, viel geerbt: die Ironie, die kunstvolle Beschäftigung mit der Lyrik, das Handwerk des Übersetzers, die Verfolgung durch deutsche Staatsoberhäupter und ehrenvolle Gefängnisse oder Konzentrationslager, das parteiische Interesse für die Literatur des 19. Jahrhunderts, und insbesondere ihre skurrilen Sonderlinge, und eine Bibliothek, deren realen und symbolischen Verlust der katastrophentrunkene Walter Mehring in seinem von Rowohlt veröffentlichten Prosabuch „Die verlorene Bibliothek, Autobiographie einer Kultur“ halb beweint und halb begrüßt.

Fortsetzung der Rezension aus „Die Zeit“ vom 1. Januar 1953, Seite.

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1925 Prosa Rezensionen

Rudolf Kurtz freut sich über Mehrings erstes Bestiarium

NICHTEUKLIDISCHE TIER-GEOMETRIE

Mein Freund Harburger sagte wieder einmal: „Für feinere Denkarbeit ist das Gehirn zu grob. Da muß der Bleistift sich selbständig machen und in more mathematico drauflos gehen. Sie glauben an das Endgültige des dreidimensionalen Raums, weil Ihre Vorstellung nichts anderes zulässt. Aber denken dürfen Sie doch einen mehrdimensionalen Raum, der zu ganz neuen mathematischen Axiomen führt. Schließlich kommen auch praktische Resultate heraus, wie bei Einstein.“

Harburger selbst hat einen sehr kühnen Vorstoß gemacht. Wie der euklidische Raum nur einen Spezialfall des allgemeinen Raums ist, versucht er es mit einer allgemeinen Logik, zu der sich unsere klassische Logik als ein sehr begrenzter Typus verhält. Es sind eminent interessante Sachen dabei herausgekommen, die Töne der Musik und die Einsteinschen Formeln.

Ist es nun nicht sehr verständlich, daß Walter Mehring der Lockung gefolgt ist, die landläufige Zoologie aus ihrem beengten Vorstellungskäfig zu befreien und ein „Neubestelltes Abenteuerliches Tierhaus“ zu eröffnen, das auch bei Gustav Kiepenheuer in Potsdam erschienen ist. Die zehn Bände Brehm stellen diesem spirituellen Baedeker gegenüber den Spezialfall einer antroomorphen Tierwelt dar, die ihre Wirklichkeit damit beweist, daß sie durch Gewehr, Angel oder Mikroskop an das menschliche Auge herangeholt werden kann. Aber wieviel „wirklicher“ ist jene bunte Fauna, die ihr Dasein nicht in zufälligen Weidegründen verankert, sondern in den erhabenen Formen der Denknotwendigkeit? Das ist die höchst fruchtbare Prärie, auf der Mehring, ein edler Trapper, seine Schlingen stellt, seine treuen Spürhunde losläßt und Schuß auf Schuß seinem nie versagendem rifle entlockt.

Mehring hat also mit Fleiß zusammengetragen, was sich an Zeugnissen klassischer Autoren vorfindet, er scheut auch nicht vor der Etablierung neuer Animalien zurück, falls ein Denkbedürfnis vorliegt; Mondkalb, Zeitungsente und Kilometerfresser kommen endlich zu ihrem Recht. Zwanglos stellt sich die neue Denkweise her, in der der Löwe ein Spezialfall des Drachen ist und die Seeschlange die allgemeine Form des Karpfens. Eine geistige Landschaft entsteht, in der jene komplexen Tiere mit vollendeter Selbstverständlichkeit auftreten und klar stellen sich die Methoden heraus, mit denen die Menschheit versucht hat, jene Tiergestalten höherer Mathematik in den euklidischen Lebensraum einzuordnen. Das Einhorn zum Beispiel wird ein wunderbar zahmes Haustier, wenn es sein Horn einer allerdings unbezweifelbaren Jungfrau in den Schoß legen darf. So günstig liegt gemeinhin der Fall nicht und man ist zu sehr groben Mitteln genötigt, wie etwa 1474 die Bürger der guten Stadt Basel, die einem eierlegenden Hahn den Prozeß machten und durch Henkershand verbrannten. Und dies mit Recht. Denn der eierlegende Hahn ist ein Denktier und hat in der dreidimensionalen Welt nichts zu suchen. Wird er dennoch bei einer Spritztour ertappt, ist es gutes menschliches Recht, ihn aus seiner angemaßten Erscheinung hinauszuwerfen und ihn in das absolute Reich seiner wahren Existenz zu befördern. Denn wo würde die wissenschaftliche Zoologie bleiben wenn sie einen eierlegenden Hahn in ihr System einordnen müßte — auf dem Scheiterhaufen mit dem Hahn!

Man spürt, daß diese Tierwelt noch aus der großen Tradition des Aristoteles lebt. Ihr philosophischer Gehalt wirkt rasch. Mehring läßt sich hierdurch leider zu Seitenblicken verlocken: er kümmert sich zu viel um die Moral seiner Leser, obschon er, und sogar besonders reizvoll, die chronique scandaleuse der Tierwelt höherer Ordnung schreibt. Aber Sie werden natürlich wissen wollen, was es mit dem nichteuklidischen Hahn überhaupt auf sich hat. Lesen Sie bitte Walter Harburgers „Metalogik“ und versuchen Sie Ihr Heil auf jenem höchst abstrakten Ozean, an dessen jenseitigem Ufer, sehen Sie, die Welt der Dimensionen sich phantastisch ausbreitet.

Rudolf Kurtz (Direktor des Schall und Rauch): Nichteuklidische Tier-Geometrie; in: Die Literarische Welt, 1. Jg, Nr. 7 vom 20. November 1925, S. 5.

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1922 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße erfreut sich an Blandine Ebinger, Walter Mehring und Friedrich Hollaender

BELANGVOLLE KABARETT – MATINEE
Von Max Herrmann (Neiße)

Die Herausarbeitung des selbständigen Kabarettstiles, das völlige Ernstnehmen der Kunstgattung, müssen zuerst einmal die gefährliche Wechselbeziehung beseitigen zwischen dem auf der Bühne und dem vom Büffett Gebotenem. Erst wenn die Rücksicht auf den Konsum an Speise und Trank gefallen ist, kann auch jene geistige Rücksichtslosigkeit entstehen, die dem Künstlerischen den zur eigenwüchsigen Entwicklung freien Raum schafft. Als brauchbare Etappe auf diesem Wege ist so eine Kabarett- Matinee zu begrüßen, wie sie Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender und Walter Mehring in den Berliner „Kammerspielen“ veranstalteten. So etwas gibt von Zeit zu Zeit unbeeinflußt Rechenschaft vom Stande der ganzen Kunstart sowohl, wie auch umfassenderes Zeugnis für des einzelnen Künstlers Persönlichkeit und Schaffensmodus, die ja bei der kurzen Frist des abendlichen Auftretens nicht den kompletten Umfang der Fähigkeit entfalten können. Das ist desto nötiger in einer Klamaukstadt wie Berlin, wo Publikum und Presse zu eigner größrer Bequemlichkeit darauf aus ist, die Schaffenden auf eine bestimmte Spezialität festzulegen und die Kategorie, mit der einer mehr oder minder zufällig einmal einen Erfolg hatte, ihm bis ans Lebensende als nie zu überschreitenden Rayon aufzunötigen. Für diese Leute ist die Ebinger die Darstellerin der halbwüchsigen Spreejöhre und Mehring der kaltschnäuzige Satiriker des Gegenwartsrummels, und wehe, wenn eins wagen sollte, einmal anders als erwartet zu kommen! Aber die drei taten‘s doch, und hätschelten auch Auditorium und Kritik trotzdem die alten gefälligen Vorurteile weiter, die Einseitigkeitsdefinitionen sind nun durch Fakten der objektiven Feststellung als böswillig belegt. Es zeigte sich nämlich erstens, daß die Ebinger eine Gestaltungskraft ist, die nicht bloß an die eine (Proletariermädchen-) Note gebunden ist. Der erste Teil der Darbietungen, für mein Gefühl der Interessantere, obwohl die Majorität natürlich den zweiten, geläufigeren vorzog, bewies ihre Vielfalt im Zeichnerischen, das Lebensromantisches, Panoptikumdämmriges, Galantlegendäres, Volksliedraunendes Bizarres und Primitives genau so scharf und mit einer ebenso aparten, für das besondre Instrument ihrer Sprach- und Körperkunst gelungnen Formung traf. Augen und Lippen umgeisterte eine tödliche Lasterhaftigkeit, aus rotem Gewand lugte ein nacktes Bein. Sie ist sich ihrer Möglichkeiten genau bewußt und hat das Spiel auf ihnen bis zur äußersten Souveränität ausgebildet, so war alles bis ins Kleinste abgewogen, Hingabe oder Sichversagen des Tonfalls, der Handbewegung, der Haltung so ausbalanciert, daß sich eine Leistung von wirklicher Geschlossenheit ergab, Kabarettmimentum einer entschiedenen, die Gesetze seiner besonderen Phantastik instinktiv beherrschenden Energie. Gleichfalls offenbarte sich, daß Mehrings spezifisch das Kabarettlied fassende Begabung in mehr als einem Sattel gerecht ist. Dieser erste Programmteil brachte auch neue Chansons von ihm, die mit dem alten Klischee „mokante Galligkeit“ nicht mehr zu erledigen sind, sondern eine Poesie der Außenseitigkeit und Abwegigkeit geben, der diffizilen Orte des Lebenswahnsinns, Wachsiguren-Relationen, die echte Sentimentalität des Verlorenseins gegen die aufgeputzte des bürgerlichen Dirnenbrimboriums, das unhold Umflügelte des Grauenmonstrums Berlin, Dämonie von Stadtbahnfahrt und Alltagsspuk, ohne Rührsal genommene Gespenstigkeit eines Totentanzes der Destillensphäre. lnfernalische Schnuppigkeit, zu der das diabolische Geldhetztempo der Stadt schon die Gassenkinder erzieht, die ihr erstes Hopsassagruseln vor einem Erhängten empfinden, der ihren miesen Alltag halb komisch, halb gefährlich überschaukelt. Da ist Urwuchs, Leibhaftigkeit dieses so seltsam bevölkerten Strichs, mit einem Schlag unmittelbar Hingefegtes! Die Veranstaltung baute sich überdies als ein gut gegliedertes Ganzes auf. Mehring leitete sie mit dem Vorspruch ein, der hier veröffentlicht wird. Dann kam der besprochene erste Teil, und im zweiten sang die Ebinger also Lieder des Genres, das nach dem Durchschnittsdiktat ihre einzige Domäne sein soll. Auch das erledigte sie natürlich wieder genial, vor allem so großartige Texte wie Hollaenders in der Stimmung glänzendes Mondlied oder sein erschütternde Anklageballade „Wenn ich gestorben bin“. Friedrich Hollaender, der Autorkomponist, begleitete sie immer am Flügel; er ist einer der besten Kabarettkomponisten, die Rubrik „Kabarettmusik“ als ein Zweig mit eignen Normen verstanden, er gibt Popularität ohne Kompromiß. pointierte Formulierung ohne Verzicht auf Geist und Geschmack und mixt — ohne Schmalz oder Programmgeklimper zu machen, einprägsame Schlager. Nicht der letzte, für jede Kabarettgemeinschaft vorbildliche Reiz ist, daß diese drei Künstler sich zu bester gegenseitiger Ergänzung eins zum andern fügen. Diese drei sind die verschiednen Seiten ein und derselben Kunstart und besitzen jedes in seiner Weise die besondere Magie der Brettl-Technik. Die Gestalterin, der Komponist, der Autor sind Blut und Geist grade vom Blute und Geiste dieses Komplexes und haben unwillkürlich im Spiel von Ausdruck und Geste, in der Tonanordnung, in der Wortregie die zu diesem Zwecke siegreiche und für dieses Feld originale Rhythmik und Dynamik. Darum rundete sich die Matinee wie ein Ring, sodaß Mehrings Vorwort aufging und bestätigt wurde im letzten Satz und in der letzten Gebärde der Ebinger und im letzten Notenarrangement und der letzten Situationsnotiz Friedrich Hollaenders und dieses Vormittagskabarett gesegnet war mit dein, was fast allen nächtlichen fehlt: mit Architektonik seiner Vorführungen, innerer Figur, (Drei-) Einigkeit.

Erschienen in: Die Neue Schaubühne, 4. Jg, April 1922, S. 109.

Walter Mehrings Vorrede

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1922 Rezensionen Zeitschriften

Walter Mehring feiert Blandine Ebinger

WENN IHR‘S NICHT FÜHLT, IHR WERDET‘S NICHT ERJAGEN…
(VORSPRUCH ZUR BLNDINE EBINGER MATINÈE)
Von Walter Melhring

Man könnte es dereinst für absurd halten, daß heute noch ein Mensch, und selbst für Augenblicke, es über sich gewann, ein Lied zu singen. Nach all dem Wahnwitz aber will man nun der Kunst die Rolle zuweisen, in diesem höllischen Debacle den kulturellen Schein des Himmelslichts zu wahren. Und fühlt der Künstler sich nicht in der Stimmung, den Tango der neun Musen zu erfinden, dann soll er wenigstens mit einem Lob der Menschlichkeit unsere Dissonanzen so übertönen, bis wir es selbst glauben, daß wir es gar nicht gewesen sind.

Dabei brauchten wir nur den Satz, daß böse Menschen keine Lieder (und auch keine Literatur) haben, als wahr zu nehmen, um mit einem fröhlichen: Wer wird denn weinen.., unsere Gutartigkeit zu dokumentieren. Aber sonderbar und unerforschlich sind die Wege unseres Schamgefühls. Ein Nackttanz paßte besser zu diesem demaskierten Elend als alle Theosophie. Die Gegensätze würden sich berühren, und man wüßte, woran man ist! Die trostlose Hoffnung, daß alles nur ein Mißverständnis war, wirkt deprimierender, als die klare Erkenntnis. Es hat sich vieles gewandelt in diesem Europa und jetzt stagniert es; die Letzten wurden die Ersten, die im Trüben fischen; sie waren schon immer da, saßen versteckt am Grund und sind emporgestiegen, hocken beisammen und unken, daß die Zeiten noch schlechter werden, weil die ihre gekommen ist. Aber kein Märchen spricht über diese ‘Wirklichkeit das Zauberwort: Es war einmal, das jene Kröten in Menschen verwandelte.

Es bat sich nichts gewandelt, als nur ihr Unterhaltungsstoff. Ein Sonntag ist, wie alle Sonntage waren in diesem Riesennest Berlin, wo sich allabendlich die Zellen erleuchten und die Menschen zum Biere gehen, altern und einmal spurlos verschwinden. Einer spürt den Drang, einen Schlager zu pfeifen, wenn einer in Bedrängnis stirbt. Einer schiebt Kegel und einer Millionen und einer singt so lange: Lott is‘ dot …‚ bis es ihm selbst an den Kragen geht.

Es ist kein Sinn in dieser Methode, aber im Uebersinnlichen bleibt das Nebeneinander haften; es ist ein Bruch in dieser Zeit, aber wer Augen hat zu sehen, findet die Einheit. Das Märchen war ein Krieg; ein Kind spielt mit den Trümmern der Wahrheit.

Daß irgend etwas nicht intakt sei, daß es dem einen über Gebühr schlecht und dem andern über Gebühr gut gehe, das haben alle erfaßt und alle Darsteller bis hinunter zum Cabaret profitieren davon. Könnte man mit Gesang einen Umsturz zaubern, so wäre ein Tendenzlied löblich, weit es einen Zweck hätte, aber oben die soziale Frage zu erörtern, wenn unten einer eine Lage Sekt schmeißt, hat höchstens den Zweck, die Eintrittsgelder zu erhöben. Keinen Zweck hätte e, die Dinge darzustellen, wie die andern es sich so vorgest1lt haben, so daß sie allerdings dann glauben, die Vorstellung hätte gar nicht stattgefunden. Denn Menschen gibt es, die gehen in einen Vortrag, nicht um zu hören, sondern um zu schreiben.

Zu wissen, daß es im Leben häßlich eingerichtet, genügt nicht, wenn nicht das Bewußtsein des Schaffenden in Wort und Mimik darüber steht. Das Lied vom Elend unserer Tage wissen wir alle zu singen. Aber nur einer erlebt es, wie es gewachsen ist. Und wer es schlafwandelnd pflückt, und wäre es wie heut und hier im Vortrag von drei kurzen Strophen, wagt sein Leben an, das Erwachen. Und wäre es das Lied von einem armen Mädchen; doch nicht, daß sie arm ist, rührt uns, sondern daß etwas von allem, das um sie herum und gleichzeitig besteht, in ihre Worte überging, bereichert unseren Blick. Denn nur Worte können so nebeneinander hergehen wie Menschen, und wo sie sich finden, ist ihr Schicksal und ihr Kehrreim. Und wenn tausend Jahre wie ein Tag sind, lebt

Das alte schlichte Lied von gestern abend,
Mich dünkt, es linderte den Gram mir sehr,
Mehr als gesuchte Wort‘ und lust‘ge Weisen
Aus dieser rachen, wirbelsüchtigen Zeit.

Erschienen in: Die Neue Schaubühne, 4. Jg, April 1922, S. 109.
Soviel ich (A.O.) weiß, ist dieser Text bislang nicht neu veröffentlicht worden. Da ich nicht weiß, wo die Rechte liegen, bitte ich die Rechteinhaber sich an mich zu wenden.  

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1929 Lyrik Rezensionen

Wolf Zucker sieht Mehrings Lyrik ganz anders als Walter Benjamin

In der „Literarischen Welt“ entdeckt Wolf Zucker in „Die Gedichte Lieder und Chansons des Walter Mehring“ das wirklich Besondere. Anders als Walter Benjamin, konzentriert sich Zucker auf die Wirkung und die große Bandbreite der Tonalität in Mehrings Lyrik. Dieser unideologische Blick ist denn auch mehr als 80 Jahre nach entstehen des Textes erhellend:

Walter Mehring gehört zu jenen Autoren, deren Wirkung viel weiter geht, als sie selber ahnen. Ohne daß sein Name genannt wird, sind seine Chansons weit über den engen Kreis der Literaturfreunde hinaus bekannt. Es gibt kein schöneres Lob für seine Gassenhauer, als daß sie wirklich in Kneipen bruchstückhaft gesungen werden. Dabei sind die Chansons, Legenden und Balladen mit einer so raffinierten Klugheit und Beherrschung aller sprachlichen Register geschrieben, daß sie oft naturgewachsene Wunderwerke an Ausdrucksfähigkeit zu sein scheinen. Mehring, dessen Wortschatz von der Grenadierstraße bis zum Boulevard de Clichy, von Oberammergau bis hinter die Reeperbahn reicht, hat etwas fertig gebracht, was es in deutscher Sprache sehr selten gibt:
Gedichte im „Volkston“. Gewöhnlich verstand man ja darunter eine gewisse künstliche Naivität, die auf ihre abgebrauchten Phrasen stolz war, die „Maienblüte“ und .‚Lerchensang“ als volkstümlich ausgab. Mehring ist auch nicht der Versuchung des neuromantischen Maschinenkjtschs erlegen, ist weder Naturalist noch Symbolist, sondern etwas ganz und gar Eigenes.
Was Paul Whitman für die Musik, das hat Mehring für das moderne Chanson geleistet: Die Verjazzung von Rhythmus und Melos. Jener synkopische Versstil, den schon Liliencron gelegentlich hatte, wird bei Mehring zur letzten Konsequenz ausgebaut. Aber eine solche Verwendung technischen Raffinements bleibt bei ihm nicht mechanisch. Gerade die völlige Durchdachtheit seiner Strophen gibt den Gedichten ihren besonderen Charakter. Bei allem Temperament hat Mehring jene sprachliche Disziplin, die für das Chanson Vorbedingung ist. Sein „‘ck bin jefiehllos, ’ck bin Poet!“ könnte als Motto über einer Theorie der Mehringschen Lyrik stehen. Und man würde damit sagen, daß hier ein Dichter mit Gefühl aber nicht „jefiehlvoll“ geschrieben hat.

Wolf Zucker: Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring; in: Die Literarische Welt Nr. 30, 5. Jg. vom 26. Juli 1929, S. 9.

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1929 Lyrik Rezensionen

Walter Benjamin kann nichts mit Mehrings Gedichten, Liedern und Chansons anfangen

Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring„, die 1929 bei S. Fischer erschienen sind, gefallen nicht jedem. Walter Benjamin schreibt in seiner Rezension, dass ihm das „Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen“ fehlen. Anders als bei Brecht sei die Lyrik Mehrings nicht wirklich groß. De facto bewertet Benjamin die Lyrik Mehrings aber nicht wirklich nach der Qualität der Texte. Es geht ihm vielmehr um die Desavuierung eines Dichters, der sich explizit der kommunistischen Partei verweigerte. Anders als Brecht. Die Wahl einer Textstelle, die tatsächlich nicht zu den starken zählt, ist deshalb weniger Beleg für die Argumentation, als vielmehr Beleg für die Polemik. Und die Suche nach einer so schwachen Textstelle muss Walter Benjamin angesichts der vielen treffenden und sprachlich kraftvollen Texte einige Mühe gekostet haben. Und so erledigt sich die Kritik selbst, da sie nur von Ideologie geprägt ist. (A.O.)

Gebrauchslyrik? Aber nicht so!

Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme alles verkaufen muß, so mußte er’s auch dulden, daß der Reiche sich Zutritt zu seinem Asyl erzwang und sich’s bei einem Feuer gemütlich machte, das darauf brannte, ihn zu verzehren. Das ist der Ursprung des Kabaretts. Schwer ist es den Schülern Aristide Bruants nicht geworden, sich auf die soziale Zweideutigkeit der Gattung einzulassen. Die sexuelle findet sich schnell dazu. Aber auch die Zote war noch Revolte, Aufstand des Sexus gegen die Liebe, und bei Wedekind geht es hart her. Erst recht geht es hart her bei Brecht, dem besten Chansonnier seit Wedekind, und dem lehrreicheren, weil bei ihm um den Waagebalken der Not die beiden Schalen Hunger und Geschlecht gerechter spielen. Mit Brecht hat das Chanson sich vom Brettl emanzipiert, die Decadence begann historisch zu werden. Sein Hooligan ist die Hohlform, in die dereinst mit besserem, vollerem Stoff das Bild des klassenlosen Menschen soll gegossen werden. Damit fand die Gattung ihre scharfe aktuelle Bestimmung. Es reicht nicht mehr aus, Gaunersprache und Platt, Argot und Slang zu parlieren, um hier mitreden zu dürfen. Und, die Wahrheit zu sagen: nie hat es ausgereicht. Wenn es in den Kreisen der »Vaterlandslosen«, »Entwurzelten« so etwas wie Heimatkunst gibt, dann ist es das Chanson, das aus dem engen rauchgeschwärzten Kneipenwinkel kommt. Und wo dergleichen Weisen etwas taugen, da haben einmal Männer beisammen gesessen. Mehring 1) mag allerlei Qualitäten haben, mag der Sprache rabeleske Toupets, balladeske Tollen oder bierbaumsche Schmachtlocken drehen – er hat nie an ungehobelten Tischen gesessen. Das Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen sind ihm fremd – trotz »Ketzerbrevier« und »Legenden«. Sein Chanson ist ein Esperanto der Dichtung, der Effekt ist sein letztes Wort und niemals liegt er in der Nuance. Ein Mann wie Brecht kann das Massivste anheben, wir werden immer unsere Freude daran haben, wie zart er es niederlegt. Mehring kann gar nicht athletisch genug stemmen, aber wenn man dagegen klopft, klingt es so hohl wie dies:

Und acherontisch donnert der Métrozug,
Apokalyptisch reist der Passagier.

Die Überlieferungen der Decadence sind gerade in Deutschland zu schwer erkauft und zu lauter – man braucht hier nur den Namen Hardekopf zu nennen –, um sich diese akademische Kopie gefallen zu lassen, der ihre Herkunft aus dem Amüsierbetrieb der Großstadt an der Stirn geschrieben steht. Diese Sachen haben keine verändernde Kraft; sie werden keine Umgruppierung verschulden. Denn sie sind nicht von der Niedertracht, sondern vom Masochismus eines bürgerlichen Publikums inspiriert.

Walter Benjamin: Gebrauchslyrik? Aber nicht so; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/Main: 1972, S. 183f.

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Rezensionen Wissenschaft

Max Herrmann-Neiße stellt Kabarettdichter und Kabarettkomponisten vor

Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende  Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht. Da ist die Dirne nicht aus ihrem Wesen heraus gestaltet, sondern aus der falschen Vogelperspektive ihrer Gelegenheitsbesucher gutbürgerlicher Provenienz. Standpunkt des beschwipsten Zynikers, der voll beleidigender Bonhomie ein »fideles« Unterwelt-Gastsspiel gibt. Oder des Romantikers, der sich selber berauscht an seinem arroganten, bequemen Mitleid. Wedekinds dämonische Beschwörung dieser Sphären ist nicht beliebt, macht denen Unbehagen, die in ihrer Selbstgefälligkeit nicht gestört sein mögen und gewohnt sind, über Abgründe sich hinwegzuwitzeln. Nicht die erstarrte Maske, sondern der zwinkernde Rouéblick, nicht eines Dichters unerbittliche Stimme, sondern des Commis voyageurs fettes Schnalzen gilt. Beispiele für die erträgliche und die unerträgliche Manier solcher Kabarettliteratur bietet Leo Hellers Sammlung Aus Pennen und Kaschemmen. Goldschnittlyrik mit dem Thema: Berlin NO. Nur ein paar Nummern haben ihre Stärke in der Eignung zum Vortragsmaterial insofern, als sie von vornherein gestellt sind auf die besondere Situations- und Ausdruckszuspitzung, auf den eignen Tonfall der Brettl-Brauchbarkeit. Die Schwindelatmosphäre des Berliner Kriegs- und Nachkriegsbetriebs, diese Hochstapler- und Vabanquestimmung mit ihrem Gemisch aus Wüsten, Feilschen, Bluffen, Talmikavaliertum, Nuttigkeit, Versumpfung, Gezappel, nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marsch artigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafter Geschäftigkeit, im rechten Grammophonrhythmus, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen, in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters und in hanebüchner Prosa von Raoul Hausmann. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Vogelfreiheit und Konventionslosigkeit ihres Werkes für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger bleiben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, dessen Verse voll spontaner Explosion und bittrer Sachlichkeit sind, radikal ohne radikale Form allerdings, und über die lebensechte, ursprüngliche, schicksalhafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings fort bis zu Bert Brecht, dem dramatischen Gestalter von gesellschaftsfeindlichen, schwärmenden und wüstenden Urtumsexistenzen, dem erschütternden Bänkelsänger der wilden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten.

Der unnachahmliche Ausbund von einem lebensechten Vagantenpoeten aber ist Joachim Ringelnatz, heutiger Franccis Villon, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich Veralkeholisiertes, Urviechiges, mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für sei nen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. Einst war er nur ein Münchner Unikum, als Boetticher einer von den Hauspoeten im »Simplizissimus« der Kathi Kobus, der in Morgensternartigen Sächelchen wie der Schnupftabaksdose den Durchschnitt kaum überragte. Aber in den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch schuf er sich dann eine ganz eigentümliche, barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens. Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als »ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen Umwelt, daß man sich in nebulose seemännische Gruseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur vorgestellten exotischen und erotischen Abenteuern träumt, und schließlich in allem als Kind dasteht, himmlisches, boshaftes Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig fallend von nichts mehr weiß.

Dieselbe göttliche Naivität herrscht in allen drei Büchern und überall grenzt sie nahe an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber darin ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerißner Dichtermensch ist, kennt das, wie man dicht nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörensches haben kann und muß. Dieselben Grundelemente finden sich in allen drei Werken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weit absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt, und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit mancher Verse ist kein Gefühls- oder Gewissensmangel, eher der Überfluß daran, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der tatsächlichen Majorität der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Heut tritt Ringelnatz in allen größeren Kabaretts Deutschlands auf, und wie er seine Dichtungen bringt, mit dem vollkommnen Eindruck des Improvisierens, schnapsselig über der Situation Stehens, großzügiger Liederlichkeit, das paßt so vorzüglich zu seinem Vortragsmaterial, daß aus Mensch, Poet, Rezitation und Carmen die komplette Einheit geschaffen ist. Wirklich heutigen Dichters Wesen kann nur sein die undefinierbare, im Grund doch grausliche und höllische Mittellage zwischen Tragik und (noch mit Tragik getränktem) Grinsen. Ringelnatz verkörpert sie auf eine ganz originelle Art, und wie er z. B. die Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument nicht vorträgt, sondern zu einem prägnanten Drama leibhaftigen Erlebens macht, muß auch dem Stumpferen beigebracht sein, daß des grotesken Dichters (wie jeglichen wahren Dichters) Element die Tragik, die unleugbare, unentrinnbare Daseins-Tragik bleibt.

Ein Dichter, der nie direkt fürs Kabarett schrieb und leider bis jetzt noch von keinem Kabarett gebracht wurde, dennoch für ein wirklich im Geistigen radikales Kabarett der Dichter von überlegner Originalität und Unnahbarkeit wäre, ist Gottfried Benn. Die Vehemenz seines Griffes ist ohnegleichen, und alles ist das schroffste Gegenteil von Sentimentalität. Die Gattung Couplet ist gesteigert ins schonungslos Vernichtende, daß die Fronde der besten bisherigen Angriffs-Chansons tief unter Benns Nihilismus bleibt, weil jene die Feindschaft innerhalb derselben Welt, Benns Dichtungen aber brückenlosen Bruch bedeuten. (Eine Wucht, die zu geißeln weiß, ohne in Eckengezänk zu vernörgeln, teilt ihre gut gezielten Bewegungen aus. Seine Dichtung, traditionslos heidnischen Geistes voll, bombardiert die Erstarrung, Stupidität, Verdünnung und Entblutung des Daseins. Und als Benn über ein Preisausschreiben »für das beste deutsche Chanson« als über ein Symptom der Zeit sich ärgerte, schrieb er einen Prolog- über einen deutschen Dichterwettstreit [Die Aktion, Jahrgang 12, Nr. 9/10], der ingrimmig das ganze Repertoire heutigen »Kultur«-Schwindels bucht und als Vernichtung durchschnittlich kabarettistischen Animierbetriebs zugleich das idealste Vortragsmaterial für ein faktisch gefährliches Revolte-Kabarett darstellt.)

Ein Chanson zu schreiben, das sich vollkommen mit dem deckt, was die Gattung fordert, ist eine Aufgabe, deren Schwierigkeit man nicht unterschätzen darf. Autoren, die das konnten und sich auf die spezifischen Bedürfnisse des Kabaretts bewußt einzurichten verstanden, direkte Kabarettautoren von wirklichem Rang gab es in Deutschland lange nicht. Um 1919 erst existieren zwei Leute, die als Kabarettautoren ernsthaft in Betracht kommen: Kurt Tucholsky und Walter Mehring. Kurt Tucholsky, unter diesem Namen und unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger Hauptmitarbeiter der Jacobsohnschen »Weltbühne«, hat eine Fülle witziger Couplets geschaffen, die das bis dahin übliche Niveau noch überragen. Sie sind meist angriffslustig in einer gewissen Texten versorgen kann, daß eine gute Humoristin alten Stils, etwa Else Ward, und die Repräsentanten neuster Ausdrucksform (die Holl, die Ebinger, Paul Graetz) seine Chansons bringen. Er hat oft sehr gut den rechten Berliner Ton getroffen, in der Dame mit’n Avec und in den Soloszenen, die er für Graetz schrieb. Eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete Walter Mehring. Er begann damit, die alte Berliner Gassenhauer-Tradition mit neuster Ätzung und Wuppdizität zu beleben. Da gelangen ihm so vorbildliche Treffer wie Deutscher Liebesfrühling 1919, ‚Fräulein lrene, Couplet en voltige. Was Mehring vor allem zu seinem Metier befähigt, ist eine rhythmische Feinfühligkeit, eine Treffsicherheit, den richtigen Vortrags-Schwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiednen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Ahnung vom Tonfall Bruantscher Schreckenslieder (Die Kartenhexe, Zum blauen Affen, Cabaret Schwalbennest, die Kehrreimweise Moralisches Glockengeläute, Kinderlied), eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte (Graduale) und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplet-Technik, wie es beispiellos leuchtet in Die Reklame bemächtigt sich des Lebens. Es muß noch einmal gradezu konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortrags-Elan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdrückt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettl-Dichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale. Er erwischt alte und neue Medien grade im rechten Moment, ladet sie mit seiner Elektrizität, und die eigne tadellos funktionierende Walze ist perfekt. Er würfelt die ulkigsten Reime erster und zweiter Ordnung durcheinander, macht aus überstürzendem Radebrechen eines liebestollen Fremdlings die Note des Kaukasierliedes, mixt aus Niggersong, Ragtime und Operettenrefrain eine Jazzband, eine mit Sätzen verübte Tanzorgie, und kurbelt die gute alte Popularität des Berliner Volkslieds in eine ganz gegenwärtige Vehemenz. Diejenigen haben aber Unrecht, die den Mehring nur als den poetischen Lokalreporter möchten gelten lassen, wenn er auch, unter anderm, den Jargon des »Berliner Schlagers« wie kein zweiter Meister, ihn für modernste Force gebrauchsfertig machte mit all seinem Mutterwitz, seinen pfiffigen Worteinfällen, dem derben Rotwelsch seiner Respektlosigkeit. Aber Mehrings Bezirk ist nicht bloß ein Rummelplatz, Pficht nur der größre Rummelplatz Berlin, sondern die heutige Erdoberfläche schlechthin, Mehrings Sujets sind international, er beherrscht viele Register, und er läßt sich auch nicht einmal auf ein einziges Temperament, auf eine einzige Gefühlsnuance festlegen. Mokante Kaltschnäuzigkeit, absolute Gemütslosigkeit ist die Signatur, mit der man ihn abstempelt, aber dann wird man bei ihm auf einmal von Sachen beunruhigt, die so gar nicht ins Schema passen, wie Die Kiilte oder Die roten Schuhe, wo ein schnoddriger Spötterpoetisch kommt. Ein Grundzug Mehrings ist schon die blutige Skepsis, die sich von keiner Illusion mehr zur Ehrerbietung anführen läßt (und auf die Kaffrigkeit der lieben Umwelt spuckt), aber schonungslosen Zynismus und krasse Verachtung bringt erst der auf, der im Tiefsten einer zarteren Anbetung tödlich enttäuscht wurde. Solches Getroffensein wächst zum diabolischen Aufschrei des Puppenspiels Weiße Messe, zu den »Geißelliedern« Lita nei und Schwarze Ostern. Mehrings Schöpfungen haben ihren Platz im Repertoire der wesentlichen neuen Kabarettkünstler (Gussy Holl, Rosa Valetti, Trude Hesterberg, Blandine Ebinger, Kate Kühl, Erika von Thellmann, Mady Christians, Kurt Gerron, Fritz Kampers, Gustav von Wangenheim sangen sie), man kann ein ganzes ideales Kabarettprogramm allein aus seinen Büchern zusammenstellen mit Berlinischem, Ländlichem, Internationalem, mit Sentimentalem und Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr, wobei für Ankurbelung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang bestens gesorgt wäre. Da gäbe es pompöse Monstrestücke wie die Arie der großen Hure Presse und Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom Abenteurer und vom Highwaymann, hinterhältige Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt und Bergerette. Dann ganz große, Stimmung der Weltstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke Die Maschinen, wundervoll grinsende Ironie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel If the man in the moon, robustes Chanson Die Gardekiirassiere, schnuppige, unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentstrophen Die vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute und schließlich die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich kenne, die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Mehring-Nachahmer und -Epigonen gibt es nun schon die Masse (man findet sie sogar in den Animierkabaretts der Friedrich- und Jägerstraße, wo die Sache allerdings ganz verplattet und veräußerlicht wird). Noch verhältnismäßig selbständig dagegen bediente sich Hans Janowitz des Mehringstils, indem er ihn mehr mit seiner weicheren, laueren, gefälligeren Art durchtränkte und plausibel machte. (Das ergab Sachen wie den Nachtspaziergang 1921 bis zu so nichtssagenden Massenartikeln wie Wenn der Morgen graut, nimm dir keine Braut dem Autobus-Chanson und dem Javalied.).
Der Schauspieler Hermann Vallentin kommt aus seiner eignen temperamentvollen Menschlichkeit und Drastik und aus einer gewissen verständnisinnigen Lebensbeobachtung zu ein paar Couplet-Texten voll Mutterwitz und echt Berlinischer Mischung aus Rührung und schlagfertiger Laune. Sein Dornröschen auf dem Wedding wurde von Blandine Ebinger gesungen, Wenn der Frühling in die Höfe steigt von Annemarie Haase, Sind’s die Augen, geh‘ zu Buhnke leider nur von einer matten Kopie der Ebinger. Das Lied von der republikanischen Droschke, Eine Viertelstunde Zeitgeist, Der Mann ohne Namen trug er selbst vor. Klabund, der alles kann, hat eigentlich auch in seinen Kabarett-Texten keine eigne Note, nur, daß es immer gefällig brauchbar gemacht ist, sei es ein Hamburger Hurenlied (das die Häusinger zur Laute sang), eine Soloszene Der Spieler (vom Schauspieler Hubert von Meyerinck gestaltet) oder zuerst von der Ebinger gesungne Piecen wie Deutsches Volkslied oder die kessen Chansons Wo andre gehrt, da muß ich fliegen und Ich baumle mit de Beene. Jetzt beliefert am eifrigsten die Kabaretts mit Texten Marcellus Schiffer. Der ist schon sozusagen ein Routinier des Chansontextes, aber in einer mittleren Position, zwischen dem Kabarett – Dichter Mehring und über den vielen kleinen Zufall-Schreiberchen, die glauben, sich den Kabarettstil angeeignet zu haben, wenn sie in schwüler Stimmung oder in kesser übertriebenheit versiert sind. Schiffer hat wirklich eine direkte Kabarettbegabung, seine Texte sind oberflächlicher als die Mehrings, nicht so unterirdisch gefährlich, nicht so mit Sprengstoff geladen, aber doch meist mit dem Zynismus eines überlegnen Intellekts gespeist, der sich nicht düpieren läßt. Auch er beherrscht mancherlei Walzen: kann zierliche, kunstgewerbliche Reizsächelchen machen wie Chinoiserie, derbe Humoresken wie Immer Emma, hat immer wieder zeitgemäße Einfälle, läßt einmal eine Midinette, einmal eine Hoteldiebin, einmal einen wohnungssuchenden »möblierten Herrn«, einmal eine Fliegentütenjungfrau, einmal ein Fräulein Raffke erscheinen. Die Schlagworte und Modesprüche bringt er sofort geschickt in der richtigen sarkastischen Umformung unter: Jeder Mann sein eigenes Niveau, Verständigungspolitik, Ick hab mir jarnischt bei jedacht. Schließlich die Höhepunkte seiner Produktion sind jene hemmungslosen Persiflagen erotischen Schwindels: Eine beßre Sache, Die Perverse, Die Linie der Mode, Die Minderjährige und die Kinderlieder.) Auch sein Schaffen ist nicht auf einen einzigen, in einer bestimmten Linie talentierten Künstler zugeschnitten: es gab so verschiednen Temperamenten und Typen wie Bendow, Benofsky, Rose Müller, Dora Paulsen, Annemarie Haase, Kate Kühl, Margo Lion den grade für sie richtigen Stoff.

Komponisten des heutigen Kabaretts sind Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, Mischa Spoliansky, Victor Heermann, Stefan Meisel, Allan Gray, Clauberg, Michael Krauss, Hermann Krome. Victor Heermann hat eine Süße, etwas Lyrisches, das ein Altes Rokokolied besonders einprägsam macht oder Schiffers Chinoiserie oder zierliche Gedichte von Franz Hessel. Gelegentlich kann er allerdings auch etwas Robusteres (Wozu in’n Kintopp?) sachgemäß vertonen. Seine beste Interpretin bleibt seine Schwester Belly. Mischa Spoliansky stellt am schmissigsten den grotesken, vigilanten und prägnanten Rhythmus des modernen Getriebes dar. So brachte er Schiffers Frozzeleien, Vallentins Wenn der Frühling in die Höfe steigt, den Matrosensang und meine eigne Rummelplatz-Persiflage vom Wilden Mädchen Kuddly auf die wirksamste Pointe. Werner Richard Heymann ist ein Musiker von vielen Graden. Er hat die Melodie, die verführerische, einschmeichelnde, manchmal bis ins fast Süßliche entschwebende Melodie! Und er hat auch die Fähigkeit zur großen ernsthaften Aufmachung. So gab er die einfache Weise zu Ottakring, Ich und mein Freund, Cascan, Wiegenlied, die graziöse zu Kleine Stadt, Midinette, Schattenfox, den Aufwand für die Arie der gro(3en Hure Presse und das Lied der Fürstin Trubetzkoi, das Balladeske für Charlot und den Abenteurer, das Parodistische für Lulaley, Zirkus, Madagaskar. Mehring erklärte mir, der völlig adäquate Komponist für seine Dichtungen sei noch nicht gefunden. Trotz Friedrich Hollaender, der für mein Gefühl bis jetzt am sichersten einen eignen Brettlstil schuf, Texte von Mehring, in der Spannungsweite von Blocksberg bis Mein Herz mit reinster Einfühlung vertonte und oft mit Erfolg sein eigner Autor war. Amerikanisches Riesenspielzeug, Rattenfänger, Russischer Holzschnitt, Kleine Internationale sind auch vom Komponisten aus so gut bedacht, daß sie mit dem richtigen Schwung und soviel farbiger, graziöser Tonmalerei, wie jedes von ihnen bedarf, zum Gesamtkunstwerk von holdem „Wuchs sich runden. Und einmal haben Walter Mehring, Blandine Ebinger, Friedrich Hollaender miteinander das Idealkabarett doch zumindest vorgezeichnet.

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1925 Rezensionen Zeitschriften

Max Herrmann-Neiße blickt 1925 auf neue Kabarettdichtung

Neuere deutsche Kabarettdichtung

Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.

Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters. Die Reihe der Außenseiter-, Urwuchs-, Unbandpoeten, jener Dichter, die durch die Konventionslosigkeit,
ja Vogelfreiheit ihres Werks für ein geistiges, kämpferisches Kabarett wichtige Anreger blieben, setzte sich inzwischen von Wedekind, Ludwig Scharf, über den gesinnungsechten Barden Erich Mühsam, die lebensechte, schicksalshafte Bohemienhaltlosigkeit der Emmy Hennings, den Dramatiker Bert Brecht, der zugleich der erschütternde Bänkelsänger der milden Moritat Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde und der großartig aufreizenden Ballade vom toten Soldaten ist, bis zu dem in seiner Art einmaligen Daseinsbohemien, Grotesketragiker Joachim Ringelnatz fort. Das ist der Ausbund von einem heutigen Vagantendichter, der erschüttert, wie nur die Einheit von Dichter, Werk, Leben erschüttern kann. Ein Original, etwas herrlich eralkoholisiertes, Urviechiges mit dem niederträchtigen Dichterblick für die Kleinzüge allen Außenseitertums, dem etwas für seinen Bezirk so Klassisches entstammt wie Noctambulatio. In den Turngedichten, in den Phantasien des Matrosen Kuddel Daddeldu (beide bei Kurt Wolff, München) und im Geheimen Kinder-Spiel-Buch (Gustav Kiepenheuer, Potsdam) schuf er sich eine ganz eigentümliche barocke Ausdrucksform, einen Ton und Rhythmus, den nur er so hat, für eine ganz eigne Erlebniswelt. Das sind drei Maskierungen oder Demaskierungen ein und desselben Wesens.

Dieser Seemann Kuddel Daddeldu, dieser Turnerschreck und dieser Wegweiser für Enfants terribles – es ist mehr als» ernsthaft selbstparodistische Laune«, es sind keine Fiktionen, keine »erdichteten Gestalten«, es ist der Zwang, seine verquere, verfahrene, halb lachhafte, halb melancholische Lebenschose in Zickzackbahnen zu erledigen. Alles ist gleich echt und verflucht schicksalhaft, der Ekel an der strammturnerischen deutschen Umwelt, daß man das Kotzen kriegt, sich in nebulose seemännische Grogseligkeiten flüchtet, wo man von einst erlebten oder auch nur erhofften exotischen und erotischen Abenteuern träumt und schließlich in allen als Kind dasteht, boshaftes, himmlisches Kind, dem alles nur Spiel ist und nach automatischem Widerpart und Schabernack der kaum von Trunkenheit zu unterscheidende Urweltschlaf kommt, der selig lallend von nichts mehr weiß. Es ist dieselbe göttliche Naivität hier wie in den Turn- und Seemannsgedichten, und dort wie hier grenzt sie an die raffinierteste Bewußtheit exzentrischer Technik, aber dabei ist kein Widerspruch, wer selbst ein vielfältiger, hin und her gerissner Dichtermensch ist, kennt das, wie man nah nebeneinander lindeste Schwärmerei, schadenfrohen Zynismus, Liebenswertes und Selbstzerstörerisches haben kann und muß.

Dieselben Grundelemente finden sich in dem Kinder-Spiel-Buche wie in den andern Ringelnatzwerken: der energische Zugriff, das wurschtige Sichfallenlassen, die schnuppige, ruppige, weil absichtslose, so doch im letzten Sinne keusche Eindeutigkeit, die keine Zote ist, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man auch diesen Dreck des Lebens, der einen immerzu plagt, hinschmeißt. Und auch die scheinbare Herzlosigkeit und Grausamkeit in solchen Versen ist kein Gefühls- und Gewissensmangel, eher der Überfluß an Gefühl und Gewissen, der sich mit der faktischen Herzlosigkeit der Mitbürgerschaft zu deren Ungunsten ausgleicht. Da gibt es »Abzählreime«, die in ihrer scheinbaren Zufälligkeit eine Weltanschauung enthalten, nämlich die tiefe Überzeugtheit vom irrsinnigen, hoffnungslosen Nebbichtum unsrer ganzen Erdenexistenz, und die Ratschläge zu neuen Kinderspielen sind ganz rebellisch, zielen auf Attentat, Unruhe, Verwirrung ab, geben glänzend unehrerbietige, blasphemische Maximen und sind schließlich
alle» Nur für Kinder, die keinen Schiß haben «.

Der spezifische Kabarettdichter, dessen besonderes Talent es ist, die fürs Brettl notwendige Originalität, Vielfalt, Tempobeschwingtheit und scharfe Pointierung zu haben, der eine neue Art Chanson, eine ganz dem Rhythmus der Zeit und dem Rhythmus heutigen Kabaretts entsprechende Coupletkunst begründete, ist Walter Mehring. Was ihn vor allem zu seinem Metier befähigt, ist diese rhythmische Feinfühligkeit, die Treffsicherheit, den richtigen Vortragsschwung jedem einzelnen Couplet gleich mitzugeben, daß schon im Takt die Situation sich ausdrückt und Melodik und Stimmung sich vollkommen decken. Dabei ergibt sich für die verschiedenen Gelegenheiten eine dementsprechende Abwechslung: eine Erinnerung an den Tonfall Bruantscher Schreckenslieder, die alte Kehrreimweise, eine Simultanität, die von der »Fortgeschrittnen Lyrik« manches nutzte, und schließlich das originellste Produkt eines freien Rhythmusses der Couplettechnik. Es muß noch einmal konstatiert werden, daß der nun so oft dünner nachgemachte Vortragselan, der die rasende Mechanik des Großstadtbetriebes exakt ausdruckt und so etwas wie einen Expressionismus der Brettldichtung, eine im Automobiltempo losgelassene, gebremste und Kurven nehmende Momentaufnahme darstellt, zuerst und am intensivsten moussierte in solchen Mehringoriginalen wie Achtung Gleisdreieck, Sensation, Salto mortale.

Sein neuester Band Europäische Nächte (Elena Gottschalk Verlag, Berlin) ist sehr geschickt eingekleidet als eine »Revue in drei Akten und zwanzig Bildern«. Die drei Akte »Quer durch Mauern«, »Ländliche Romanze«, »Nun ade, du mein lieb Heimatland« gliedern die Sache in Berlinisches, Ländliches und Internationales, wobei für Ankurblung, Atemholen, Steigerung und radikal brüsken Ausklang, wie für die richtige kabarettistische Vielfalt von sentimentalem, Aggressivem, Zärtlichem und Barschem, Schwärmerei und Abfuhr glänzend gesorgt ist. Das Ganze ist geradezu ein vorbildlicher Grundriß für ein ideales Kabarettprogramm. Und es ist auch gewissermaßen ein historisches Kabarettbuch, denn es enthält alle die Schlager, die – von Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky komponiert – ihren Platz haben im Repertoire wesentlicher deutscher Kabarettküristler. Es enthält auch die beiden besten kabarettgemäßen Persiflagen, die ich aus den Programmen der letzten Kabarettjahre kenne: die Oberammergau-Parodie und den Russischen Holzschnitt. Auch in diesem Bande erweist sich, daß Mehring viele Register beherrscht, von einer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit ist. Da gibt es so pompöse Monatrestücke wie die Arie der großen Hure Presse, Blocksberg, Bravournummern wie Dressur, Der Rattenfänger von Hameln, Amerikanisches Riesenspielzeug, Balladen wie die vom »Abenteurer«,vom »Highwayman«, von den »roten Schuhen« verschlagne Romanzen wie Mein Herz, unscheinbare, sanfte, dennoch mit geheimer Schadenfreude geladne Liedchen wie Die kleine Stadt, Bergerette. Dann wuchtige, Stimmung der Großstadt in unendlicher Schwermut gestaltende Dichtung Wenn wir Stadtbahn fahren, radikale Attacke: Die Maschinen, wundervoll Ironisches wie Ziehende Schafherde, bestes Tingeltangel: The man in the moon, robustes Chanson von den »Gardekürassieren «unbürgerliche, vagabundenfrohe Justamentsstrophen: Die Vier auf der Walze und Choral für Seemannsleute (übrigens tadellos das Couplet aus dem Monologischen ins Vielstimmige führend), und schließlich eine überlegene Rücksichtslosigkeit in dem herrlichen Monolog Der Angeklagte hat das letzte Wort. Mit dem Gruß »Doch nie stirbt mein Gelächter« stößt das Abenteurerschiff vom belämmerten
Heimatsufer ab, und fast schon unter Palmen stellt ein sehr, sehr über Europa schwebender Epilog den »Tiefen Grund « fest, warum bei uns zulande der mörderische Kuddelmuddel herrscht. Kein sogenanntes »ernsthaftes« Gedichtbuch der letzten Zeit hatte mich so restlos in seinem Bann wie dieses in jeder Hinsicht freie, und daß es sein Verfasser mit einem phantastischen Umschlagsbild und hübsch unpedantischen, nach Lust und Laune hingesetzten Textzeichnungen versah, schuf ihm vollends die rechte tändelfrohe, gottlob unseriöse und unbedingte Kabarettatmosphäre.

Von Marcellus Schiffer, der heut am eifrigsten die Kabaretts mit Texten beliefert, eine direkt routinierte Begabung für das nicht gerade tiefe, unterirdisch gefährliche, doch aber geschmackvolle, von einem wirklich witzigen Intellekt zeugende Chanson hat, existiert leider noch keine Buchpublikation. Erich Weinert, einst Mitglied des Leipziger Kabaretts »Die Retorte«, das eine künstlerisch selbständige, ein eignes Gesicht wahrende
Institution war, heut in Berlin beliebt, schrieb Couplets, Verssatiren, gereimte Plaudereien, deren gemeinsames Merkmal ist, daß sie ganz leicht aus dem Ärmel geschüttelt wirken und an gangbaren Pointen reich sind. Es gibt zum Beispiel von ihm eine der köstlichsten Parodien auf Dirnenchansons und eine gute Persiflierung der »neuen Deutschen Nationalhymne«, nämlich – des Bananenlieds. Seine besten Sachen stehen aber leider noch nicht in dem Bändchen Der Gottesgnadenhecht und andre Abfälle (Elena Gottschalk Verlag, Berlin), obwohl darin auch schon so ehrfurchtslos aggressives Geschütz wie das Titelgedicht, so brauchbare Verhohnepieplungen wie Der Akadem, so bittre Mahnung wie republikanischer Abend enthalten sind.

Eine Sache für sich ist Hans Reimann, eine ganz persönliche Sondernummer, eine Art sächsischer Otto Reutter von fortschrittlicherer Geistigkeit, jedenfalls natürliche Originalität, ein Kerl von eignem Wuchs und Gesicht. Seine neueste Publikation Mein. Kabarettbuch (mit Zeichnungen von Paul Simmel bei Steegemann, Hannover, erschienen), parodiert in seinen besten Partien gutpointiert kulturelles und literarisches Talmi.
Reimann konzentriert da ergötzlich Schiller, schafft die Sächsische Nationalhymne, revidiert die Schöpfungsgeschichte, besingt den Untergang des Abendlandes gebührend, stellt in einer Hymne Rabindra und Fern Andra als Lieblinge des Volks auf den Sockel des gemeinsamen Denkmals (Pose: Schiller-Goethe auf dem ‚Weimarer Denkmal), knöpft sich gelassen und kundig Caesar Flaischlen, Bonsels und Jungnickel vor.

Max Herrmann-Neiße: Neue deutsche Kabarettdichtung; in: Die neue Bücherschau, 3. Foöge, Heft 1, 1925.

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1920 Lyrik Rezensionen Zeitschriften

Kurt Tucholsky lobt Mehrings frühe Gedichte

DAS NEUE LIED

Wir sind kein liedersingendes Volk, und aus dem schauerlichen Gemisch von gestorbenen Wandervogelliedern und künstlich gemachten Operettenschlagern ragt nichts hervor, was dieses Volkes Seele erfüllte. Wenn dem Deutschen so recht wohl ums Herz ist, dann singt er nicht. Dann spielt er Skat.

Eine ganze Industrie befaßt sich mit der Herstellung von Amüsierungs-Erzeugnissen – aber wie tot ist das alles!

Die Technik: Der Schlager baut sich auf dem Refrain auf und der wieder auf einer allgemein gültigen, an sich farblosen, zugkräftigen Redewendung, die man nach allen Richtungen beliebig „drehen“ kann. Sie kann berlinisch sein, was sich so der Zeitungsleser unter berlinisch vorstellt – sie muß sexuell verwendbar sein, aber ja nicht erotisch.  Operettenlieder und Couplets sind durchtränkt von einem unheilbaren Optimismus: in dieser Welt gibt es keine Brotmarken, und wenn es sie gibt, sind sie Anlaß zu einem Wortspiel. Verstaubt Technik und Musik: an der entscheidenden Stelle die Poängte, an der entscheidenden Stelle eine glatt auflaufende berliner Redensart, eine Zote, ein Wortspiel, eine politische Anspielung … Bitte sehr, bitte gleich!

Erstorben das Lebensgefühl dieser Dinge. Das ist alles nicht mehr wahr: der heillose  Optimismus nicht und nicht das Pathos und der ethische Baß. Berlin ist anders,  Deutschland ist anders, die Welt ist anders.

Wir haben, instinktiv und ohne nachzudenken, immer auf dem Kausalnexus und irgendeinem Ethos basiert. Vielleicht ist das gar nicht richtig. Vielleicht ist die Tatsache der Wertung eine überlebte und nicht mehr geltende Angelegenheit. Vielleicht gibt es doch noch außerhalb der Faktoren der materialistischen Geschichtsauffassung Dinge, von denen sich unsre Erziehung nichts träumen ließ.

Dada? Ja, wenn aus diesem Gemisch von Bluff, Schwäche, intellektueller Einsicht und Gefühl etwa herausspränge: Die Welt läuft – lauft mit! Wenn herausspränge: Die Menschen  müssen so sein, und nichts kann ihre Existenz beeinflussen. Wichtig sind nicht Einflüsse: wichtig sind Prädispositionen.

So feierlich muß ich mich auftun, um einen kleinen Gedichtband mit Couplets anzuzeigen: „Das politische Cabaret“ von Walter Mehring (bei Rudolf Kaemmerer in Dresden erschienen).

Zunächst ist hier technisch etwas vollkommen Neues. Da sind nicht mehr die langen Sätze, die mit der Kraft des Verstandes hergestellten Gedankengänge, vom Autor auf die vorher gebaute Pointe losgelassen – hier ist der sinnliche Eindruck in jeder Zeile neu und stark. Die Mache kommt zunächst gar nicht zum Bewußtsein.

Sie ist aber – ob aus dem Herzen, ob aus dem Hirn herrührend – ungeheuer raffiniert. So etwas von Rhythmus war überhaupt noch nicht da. Man kommt nicht zur Besinnung, und es reißt einen um:

„Immer an der Wand lang. Immer an der Wand lang!
Einer taumelt, Einer baumelt.
Und der Schieber lacht sich krank.“

Mehring begann mit diesen Couplets am Ende des Jahres 1918. Da ist noch stellenweise die alte Form, aber die schon in ganz neuer Färbung. Er machte damals schon zweierlei:  einmal eine wilde Hatz von Eindrücken in freien Rhythmen, die ungefähr so wirken wie eine Wand von Plakaten, an der man schnell vorüberfährt :

„Schon revoltieren
die ersten Lebensmittel der Entente
Im Magen des Kapitalisten!
Berlin, Dein Tänzer ist der Tod –
Foxtrott und Jazz –
Die Republik amüsiert sich königlich –
Vergiß mein nicht zum ersten Mai
Als alle Knospen sprangen!“

Oder er nimmt die alte Coupletform her mit dem richtigen Refrain, ordnet sich ihr scheinbar unter und wirft sie in Wirklichkeit über den Haufen. Der Refrain: eingehämmert.

„Herr Doktor, da is was von Noske drin,
Und was vom Lieben.“

Dann aber entsprang aus diesem jungen Menschen das neue Couplet. Er beherrscht alle berliner Dialekte: den des Luden, der Hure, des Schiebers, des zivilisierten Konfektionärs, des Droschkenkutschers und am meisten den Dialekt der Zeitungsleser, den die gar nicht als Dialekt spüren, und von dem sie glauben, das eben sei ihr geliebtes Deutsch. Die Folge dieser verblüffenden Kenntnis ist, daß Walter Mehring Lieder geschrieben hat, die unheimlich echt sind.

„Teure Heimat, Jott befohl’n,
Doch bei dir is nischt zu holen.
Denn du bist
Ausjemist
Bis uffs Hemd!
Und ‚ck find‘ mir wie ’ne Zille.
Jondle los.
Pacht mir drüben ’ne Destille,
In Los Angelos.“

Und:

„Da drinnen, i Gott bewahre,
Da gibts keine Gitarre!
Da gehts schwapp, schwapp,
Ach lecke, lecke ab!“

Wo ist der Unterschied? Die ersten Verse stammen aus dem um reißenden (Lied des Auswanderers) von Mehring (»Reisen, Mensch! is zu fein! Ohne Zaster uff’m Pflaster, Mit der Schneppe mang die Steppe, Ohne Schein»), das zweite aus den von Hans Ostwald versammelten erotischen Volksliedern (ein vergriffener Anhang zu seinen sehr instruktiven (Liedern aus dem Rinnstein bei Rösl & Co. in München). Die Lieder sind so echt, daß ich mir wohl denken kann, wie die Ostjuden der Grenadierstraße den Sang von der jüdischen Schweiz, so wie er bei Mehring im Buch steht, singen:

„As de Levone
De treifne Melone
Schaint in de jiddische Schweiz!“

Er scheut vor gar nichts zurück. Ich möchte einmal von ihm erotische Couplets hören.

Die Papas sind unverkennbar: amerikanische Affichen und die Franzosen der Montmartre-Cabarets. Aber das legitime Kind ist ein ganzer Kerl.

Ein ganzer? Ich sehe Berlin etwas anders. Noch kann ich es nicht so hartmäulig finden. Stell dich auf den Lehrter Stadtbahnhof und sieh die Züge nach Hamburg abfahren, die Lichter blinken, die Lokomotiven schnaufen, und über die Brücken trollt Berlin. Das faßt Mehring ausgezeichnet und so wie kein andrer. Aber er sieht nicht, wie vorn im ersten Vierterklassewagen ein älterer Mann mit Brille und einem Vogelbauer sitzt, das er in Tücher gehüllt hat. Darinnen hockt ängstlich auf seiner Stange ein kleines Tier mit erschrockenen glänzenden Augen. Und von Zeit zu Zeit sagt der Mann: «Na laß man, Mulle! Wir fahn jleich ab!» Das sieht er nicht. Und ich glaube, daß dieser Schuß Idylle der Stadt auch eine Farbe gibt (man kann darüber spotten, aber sie ist doch da). Mehring ist der erste Flieger über Berlin: unter seinen Augen rückt das alles zusammen: Straßenliniert, Stadtbahnzüge, Plätze und grüne Alleen – das Bild wird übersichtlich, deutlich und klar. Aber Einzelheiten kann man von da oben nicht mehr so erkennen.

Er sieht Berlin zum ersten Mal so, wie die Welt bisher Paris gesehen hat. Er hat ein neues Lebensgefühl, einen neuen Rhythmus, eine neue Technik.

Was ein Publikum, das von Kalisch bis Julius Freund mit gereimter Mathematik des Humors erzogen worden ist, dazu sagt, will nicht viel heißen. Augenblicklich steht es so, daß die Leute durch so ein Couplet zunächst umgeworfen werden (vor allem dank der Musik Friedrich Hollaenders), und wenn sie sich von dem unerhörten Schmiß und der Rage wieder erholt haben, fangen sie an, nachzudenken, langsam zu verstehen … und dann lehnen sie natürlich eine Lebensauffassung ab, die die ihrige nicht einmal tadelt, sondern einfach verlacht. Und doch zutiefst begriffen hat.

Mehring hat es nicht leicht. Ein ihm adäquates Cabaret gibt es nicht. Die besten. impressionistischen Künstler bringen Mehrings Lieder schließlich immer nur auf ihre Weise, und außer Gussy Holl wüßte ich niemand, der diese leicht in Fäulnis geratenen Verse ganz zu singen versteht.

Die virtuose Beherrschung einer neuen Form – das ist noch gar nichts. Wenn wirklich neue Philosophie, Ablehnung aller Metaphysik, schärfste und rüdeste Weltbejahung einen Straßensänger gefunden haben, der das alles in den Fingerspitzen hat: Leierkastenmusik, die Puppe auf dem Sofa des Strichmädchens, die eingesperrten Kinder, deren Mutter uff Arbeet jeht, Männer vom Hausvogteiplatz, für die die Welt keine Rätsel mehr birgt, brave Abonnenten, denen das Insertionsorgan Kindtaufe, Hochzeit und Sonnenaufgang  vorschreibt –

wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat: hier ist er.

Der Text ist 1920 in Heft 48 der Weltbühne erschienen.